Walter Benjamin ist heute allseits anerkannt als ein Physiognomiker, der die Phänomene schlüssig deutete. Seine ihn unfreiwillig prägende Lebensform des freien Publizisten führte ihn in eine für ihn heilbringende Ignoranz akademischer Zusammenhänge und zu einer bis heute beeindruckenden intellektuellen Autonomie. Seine großbürgerliche Herkunft erlaubte es ihm zudem sich den Zwängen des Erwerbslebens zu entziehen. Er dankte diese Freiheit mit einer unvergleichlichen Souveränität des Denkens, die in seinen Schriften wiederholt nachzulesen ist. Diese durchaus privilegierte gesellschaftliche Stellung verstellte ihm nicht den Blick auf das konkrete Dasein, das er nicht zuletzt lebensphilosophisch deutete. Er entfaltete sein analytisches Potential in der Deutung der Lebenswelt wie kaum ein Zweiter.
So war meines Erachtens das Jahr 1918 eines der entscheidenden Jahre – und es gab davon viele – für Walter Benjamin, denn hier entwickelte der erst sechsundzwanzigjährige ein Programm einer kommenden Philosophie in geradezu apodiktischer Form, indem er den für ihn so eigentümlichen Begriff der Erfahrung weiterdachte. (Übrigens wurde in jenem Jahr auch sein einziges Kind Stefan geboren.) Der Begriff der Erfahrung ergab sich für den Autor aus seinem negativen Verhältnis zur technisierten und industrialisierten Welt und in der positiven Annahme idealistischer Grundpositionen, die vor allem durch Baader, Kant und Schelling geprägt waren.
Benjamins Erfahrungsbegriff war aus der mystischen und kabbalistischen Überlieferung des Judentums motiviert, wobei die Idee messianischer Erlösung in der verlorenen Natur den utopischen und hermeneutischen Aspekt von dessen Lebensanschauung darstellt. Er verdankte seine Erkenntnisse über die jüdische Mystik überhaupt nur seiner seit 1905 bestehenden Freundschaft mit Gershom Scholem. Und er stand mit seinen Ideen in naher Verwandtschaft zu Ernst Blochs „Geist der Utopie“ (1918) und Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ (1921).
Walter Benjamins Absicht, kulturelle und gesellschaftliche Manifestationen als naturgeschichtliche Phänomene zu betrachten, trat seit seiner Berner Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ (1919) zutage. In der Eigentümlichkeit dieses besonderen Deutungsverfahrens spiegelte sich auch des Autors Leidenschaft zum Sammeln, etwa von Kinderspielzeug und antiquarischen Büchern. Sein Blick auf die Dinge entrückte historische Phänomene ihrer eigentlichen Zeit und versetzte sie auf diese Weise in eine Dimension der Konfiguration.
Diese Hermeneutik trat stark in seiner leider fehlgeschlagenen Habilitationsschrift über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1925) zutage. Gegenstände wurden bei Benjamin zur Idee und nicht zuletzt machte er sie als Phänomene lesbar. Hier erstarrten die Phänomene einer Alltagserfahrung ebenso wie die Notationen von Traumsequenzen unter dem gnadenlosen Blick eben dieses Physiognomikers.
Als Walter Benjamin den Entschluss zu einer Dissertation fasste, begann er alsbald mit den Vorarbeiten hierzu. Bereits im Mai 1918 begann er mit der Lektüre der Frühromantiker und diskutierte deren Texte mit Gershom Scholem. Im Oktober arbeitete er – nachdem er die Forschungsliteratur gesichtet hatte – intensiv an seiner Doktorarbeit. In einem Brief an Ernst Schoen vom 8./9.11.1918 schrieb er: „Vom eigentlichen Text ist noch nichts niedergeschrieben aber die Vorarbeit ist ziemlich weit vorgeschritten“. Bereits vier Monate später konnte er schon vermelden: „Meine Dissertation ist bald fertig“. (Brief an Hüne Caro vom 8. März 1919.) Im Mai 1919 übergab er die Arbeit seinem Doktorvater und sein Examen bestand er am 27. Juni 1919. Ein Jahr später erschien diese Arbeit, die er seinen Eltern widmete, im Berner Francke Verlag in der Reihe „Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte“.
Benjamins Dissertation ist im Wesentlichen eine Arbeit zur Schlegelschen Dichtungstheorie, begründet in der Lektüre von und im emphatischen Interesse an dem Denken und Schreiben dreier Autoren: Hölderlin, Novalis und Jean Paul. Der Doktorand erlangte mit seiner Schrift einen akademischen Achtungserfolg und noch sechzig Jahre später galt diese Arbeit als ein Grundpfeiler in der Romantikforschung. Auffällig ist bis heute der vom Autor hier entwickelte Begriff des Reflexionsmediums, den er selbst – wenn man so will – medientheoretisch auf seine Zeit überträgt. Benjamin selbst benannte sein Anliegen folgendermaßen: „Das was ich durch die Dissertation lerne, nämlich einen Einblick in das Verhältnis einer Wahrheit zur Geschichte, wird allerdings darin am wenigsten ausgesprochen sein, aber hoffentlich für kluge Leser bemerkbar. (Brief von Walter Benjamin an Ernst Schoen vom 8./9.11.1918.)
Vor allem Benjamins eigenständige Hölderlin-Lektüre blickt uns in diesem faszinierenden Text an. Schon der achtzehnjährige hatte Hölderlin für sich entdeckt. Allerdings war sein Hölderlin-Bild noch stark durch die Forschungen Norbert von Hellingraths geprägt. 1915 schrieb er seinen knapp zwanzig Druckseiten umfassenden Text über „Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin“ –über die beiden Oden „Dichtermuth“ (1800) und „Blödigkeit“ (1803) –, in dem er einen Diskurs über das Verhältnis von Dichtung und Leben sowie über die Grenzen philologischer Erkenntnis führt. Benjamin will das einzelne Gedicht verstehen als Funktion einer konzeptuellen Einheit. Der Benjamins-Text erschien allerdings erst vierzig Jahre später.
Der Walter Benjamin-Interpret Peter Szondi erhellte in seinem Traktat „Über philologische Erkenntnis“ (1962) die Voraussetzungen literarischer Hermeneutik. Philologisches Wissen könne nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text und in der ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf Erkenntnis und im Verstehen des dichterischen Wortes bestehen. Auch in seinem späten Essay über „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1921/23) stellte Benjamin die Bedeutung Hölderlins für sein Nachdenken über Sprache in den Vordergrund. Hölderlin erscheint ihm als Extrem in der Problematik moderner Subjektivität endend im Verstummens des Autors (als Subjekt). Benjamin suchte die „innere Form“ und sah in der Auswahl der beiden Hölderlin-Texte sowohl den Tod als auch den Mut des Dichters.
So könnte man den frühen Benjamin-Text über die beiden Hölderlin-Gedichte schon als dessen Interpretation lesen, die das letzte Ziel darin sah, das Verhältnis von Dichtung und Leben allein im Kosmos des Gedichts auszumachen. Schon der Vergleich von „Dichtermuth“ und „Blödigkeit“ berührte die Frage um die mögliche Geistesverwirrung Friedrich Hölderlins. Die Bedeutung Norbert von Hellingraths für Walter Benjamin mündete in dessen Versuch, die Wahrheit poetischer Texte von ihrer Gegenständlichkeit her zu beschreiben und das geschah auf der Folie der Begriffe des Erhabenen und des Ereignisses. Damit ist bis heute Walter Benjamins Oden-Kommentar den Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, die Martin Heidegger seit 1934 verfasste, näher als zumeist angenommen. Vermutlich war es Adorno, der in seinem bekannten Aufsatz „Parataxis“ (1963) sich (und Benjamin) bewusst von seinem Widersacher Heidegger absetzen wollte.
Seit den sechziger Jahren gibt es Überlegungen, das Gesamtwerk Walter Benjamins in einer repräsentablen Form zugänglich zu machen, so also auch entlegene und zu dieser Zeit vergessene Texte wie der über Hölderlins Oden. Und noch heute bietet die Edition der „Gesammelten Schriften“ von Walter Benjamin, die in siebzehn Einzelbänden in der Zeit von 1972 bis 1999 erschien, die Grundlage jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit dessen Leben und Werk. Diese Ausgabe, die von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser verantwortet wurde, ist in ihrer Konzeption leider allzu stark von den Einsprüchen Theodor W. Adornos und Gershom Scholems geprägt, deren Eintreten für den vergessenen Walter Benjamin bei aller Kritik jedoch nicht hoch genügt geschätzt werden kann.
Problematisch bei dieser Ausgabe ist die Tatsache, dass Texte nicht immer chronologisch geordnet sind und in von den Editoren bestimmten inhaltlichen Kategorien untergeordnet werden. Diese Ausgabe bietet editorische Beigaben etwa in der Bibliographie der zu Lebzeiten gedruckten Arbeiten oder in dem Verzeichnis der von Benjamin gelesenen Schriften. Das editorische Prinzip einer Einteilung in Gattungen und Textsorten ist nach heutigen Editionskriterien nicht mehr schlüssig. Auch gibt es Texte, die nicht in diese Ausgabe aufgenommen wurden.
Vor allem in der Entzifferung der Handschriften und in der Erschließung des Nachlasses liegt die kaum zu ermessende editorische Leistung der praktizierenden Herausgeber. Seitdem kann sich die wissenschaftliche Forschung auf eine vollständige und philologisch genaue Textgrundlage stützen. Ergänzt wird diese Edition durch eine sechsbändige kommentierte Ausgabe der Briefe von Walter Benjamin, die von 1995 bis 2000 erschienen ist und von Christoph Gödde und Henri Lonitz verantwortet wird.
Die zuletzt genannten Benjamin-Experten treten nun mit einem Editionsplan zu einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke und des Nachlasses von Walter Benjamin an die Öffentlichkeit. Eröffnet wird diese neue Gesamtausgabe mit der Einzeledition von dessen Dissertation „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, herausgegeben von Uwe Steiner. Dieser Band bringe den Text des Erstdrucks von 1920, gefolgt von den Ergänzungen, die Walter Benjamin in sein Handexemplar eintrug, und der Druckfehlerliste. Der Editionsplan sieht einundzwanzig Einzelbände vor, davon neun Bände in vierfarbiger Faksimile-Edition und gedruckt im Folio-Format. Die Ausgabe soll in zehn Jahren (von 2008 bis 2018) komplett vorliegen, demnächst erscheinen Band 10 „Deutsche Menschen“ (herausgegeben von Momme Brodersen) und Band 8 „Einbahnstrasse“ (herausgegeben von Detlev Schöttker).
Die fünfundzwanzig Briefe aus der Sammlung „Deutsche Menschen“ sind in ihrer Neuedition schon in wenigen Monaten erhältlich. Die neue Ausgabe der „Deutschen Menschen“ wird neben der Buchfassung von 1936 auch diejenigen Texte und Materialien enthalten, die die einzelnen Stationen der Arbeit Walter Benjamins an dieser Briefsammlung zeigen. Neben vielen Materialien und Dokumenten wird der Herausgeber alle Widmungen Benjamins, die dieser Freunden und Kollegen in ihre Exemplare schrieb, dokumentieren und außerdem zwölf Rezensionen, die von der unmittelbaren Wirkung des Buches zeugen, zum Abdruck bringen. Man darf also gespannt sein!
Zurecht ist zu konstatieren, dass zum ersten Mal (mit dieser Neuedition) sämtliche Werke und vor allem der Nachlass Walter Benjamins versammelt wird. Die Bände sind chronologisch ediert, das heißt in einem Band erscheinen sowohl die zu Lebzeiten erschienenen Schriften als auch die dazugehörenden (geplanten und Fragment gebliebenen) Bücher. Enthalten sind hier auch sämtliche Vorfassungen, Notizen, Skizzen und Entwürfe. So folgt diese Edition den Besonderheiten des Entstehungs- und Überlieferungsprozesses. Alle Bände enthalten einen Apparat, der über die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte informiert, weitere Quellen und Sacherläuterungen. Der Zeilenkommentar verweist auf die Entstehungs- und Überlieferungsvarianten und jeder Band druckt neben dem edierten Text zudem relevante Materialen und Informationen ab.
Als 1974 mit dem Band I.1 der ersten Benjamin-Ausgabe die Dissertationsschrift veröffentlichte wurde, war das ein Segen für die Forschung, denn endlich war der Text in einer kritischen, zitierfähigen Edition allgemein zugänglich. Die Gesamtherausgeber Tiedemann und Schweppenhäuser waren zugleich auch Bandherausgeber. Allerdings enthielt dieser erste Teilband nicht nur den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ (1920), sondern auch den Text über „Goethes Wahlverwandtschaften“ (1924) und die Habilitationsschrift über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1925/1928). Für alle drei Texte sieht die künftige neue Gesamtausgabe auch drei Einzelbände vor.
In der Tiedemann-Ausgabe hat der edierte Dissertationstext gesamt 115 Seiten und die getrennt veröffentlichten Anmerkungen der Herausgeber hierzu 71 Seiten, damit ein Gesamtumfang von 186 Seiten. Die neue Edition versammelt in ihrem Band gesamt 398 Seiten, also mehr als doppelt soviel Text. Schon die hier angezeigte Quantität (auch unter Berücksichtigung des veränderten Satzspiegels) lässt darauf schließen, dass die Neuedition wesentlich mehr editorische Beigaben bietet. Der edierte Text bemisst hier 134 Seiten, in der alten Ausgabe 122 Seiten. Der Quantitäts- und Qualitätsunterschied liegt also in der eigentlichen Editionsleistung, nämlich im Nachweis der Manuskripte und Drucke, im Kommentar des Herausgebers, der allein 230 Seiten umfasst. Der Leser erfährt (End-)gültiges zu der Entstehungs- und Publikationsgeschichte, zu der Edition selbst, zu den Lesarten, Varianten und Erläuterungen und zu den Dokumenten; enthalten sind zudem Personenregister und ausführliches Inhaltsverzeichnis. Diese Edition ist darum vorzüglich wenn nicht vorbildlich zu nennen.
Die im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur von Christoph Gödde und Henri Lonitz herausgegebene neue Benjamin-Ausgabe entsteht in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin-Archiv. Dieses Archiv vereint seit 2004 als eigenständige Einrichtung in der Berliner Akademie der Künste etwa 12.000 Blatt Werkmanuskripte, Notizbücher, Arbeitsunterlagen, Drucke, Briefe, Fotografien sowie private und geschäftliche Unterlagen Benjamins. Das Archiv bündelt die drei Nachlassteile aus Frankfurt, Berlin und Paris; und es versammelt in Kopien die Bestände aus Jerusalem, Moskau und Gießen. Vornehmliche Aufgabe des Archivs wird die Erfassung und Systematisierung des Materials und die Sicherung des Bestands sein.
2005 tauchten neue Benjamin-Funde im Moskauer Sonderarchiv auf und 2008 spendierte ein deutsches Automobilunternehmen dem Marbacher DLA Benjamins frühestes Manuskript der „Berliner Kindheit“. 2006 zeigte die Berliner Akademie der Künste in einer großen Ausstellung ihre Benjamin-Archivalien. Mit Recht wurde festgestellt, dass die ausgestellten Waren zum Teil von herzerfrischender Banalität seien. Stefan Ripplinger schrieb: „Die Knöchelchen der Heiligen, nüchtern betrachtet, sind auch nicht sensationeller als die Überreste eines halben Hähnchens. Einige dieser „Knöchelchen“ sind im begleitenden Katalog nachzusehen.
In einem Brief an Scholem vom 28.10.1931 sagte es Benjamin bereits treffend: „Der mir selbst manchmal störenden Bedenklichkeit, mit der ich dem Plan irgendwelcher Gesammelten Schriften von mir gegenüberstehe, entspricht die archivalische Exaktheit, mit der ich alles von mir Gedruckte verwahre und katalogisiere und wenn ich von der ökonomischen Seite der Schriftstellerei absehe, darf ich sagen, dass für mich die paar Blätter und Blättchen, in denen sie auftreten mir das anarchische Gebilde einer Privatdruckerei darstellen.“
Die Historie einer schon seit längerem internationalen Walter Benjamin-Rezeption ist noch nicht geschrieben, ihre Intentionen sind weitgehend ungeklärt. Der von Adorno und Scholem präsentierte Benjamin, der in der zweibändigen Suhrkamp-Ausgabe seiner Schriften von 1955 öffentlich wurde, verwandelte sich bald schon in einen Neuen Linken, dessen Spaltung ins Extrem getrieben wurde. So wurde 1968 das Germanistische Institut an der Frankfurter Goethe-Universität in Walter-Benjamin-Institut umbenannt. Die posthume Kluft zwischen einem Messias und einem Marxisten überwölbte ein kaum messbarer Schatz an Benjamin-Zitaten, mit denen Germanisten und Philosophen ihre Arbeiten schmückten.
Der Klassiker Walter Benjamin behauptet sich gegenüber unterschiedlichster Bedingungen der Rezeption, so zum Beispiel im Messianismuns und Marxismus, in Dekonstruktion und Literaturwissenschaft, in Medien- und Kulturwissenschaft, in Genderforschung und Gedächtnistheorien. Neueste Themen verweisen auf Benjamin und seine Beziehung zu Film und Fotografie, Wahrnehmungsgeschichte und Kunst und so weiter. Bei aller prognostischen Kraft des Benjaminschen Werks ist eben doch zu konstatieren, dass diese durch die medialen Produktionen unserer Zeit überstrapaziert werden. Der Preis dieses Triumphs ist eine gewisse Beliebigkeit in der Benjamin-Forschung, die vielleicht die neue kritische Gesamtausgabe beenden kann und ihr gegebenenfalls neue Impulse zu geben vermag.
Lorenz Jäger konstatiert darum in seiner Besprechung zum ersten Band der neuen Benjamin-Edition, dass „sicher von Benjamin keine Wirkung mehr ausgehen wird, die jener der Entdeckungszeit zu vergleichen wäre, (...) aber man könnte sich eine ganz andere Wirkung vorstellen, die von dieser neuen Edition ausgeht.“ Die nun vorliegende Edition über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ ist schlicht die beste in der langen Reihe der Benjamin-Ausgaben. Sie bringt den Text des Erstdrucks, gefolgt von den Ergänzungen, die der Autor in sein Handexemplar eintrug und der Druckfehlerliste. Der Herausgeber dokumentiert den Verlauf der Doktorprüfung und der Drucklegung sowie Florian Christian Rangs Auseinandersetzung mit dieser Arbeit. Neu aufgefundene Briefe von Paul Häberlin an Walter Benjamin beschließen den Band.
Diese mustergültige Edition verdankt sich selbstredend der Tatsache, dass die philologische Lage heute einfach besser ist als zu der Zeit der Ausgabe von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Zwischen den beiden textologischen Veröffentlichungen dieses Benjamin-Textes liegen vierunddreißig Jahre. Darum ist den früheren Herausgebern wenig Vorwurf zu machen, denn ein jede Edition spiegelt auch die Möglichkeiten ihrer Zeit. In unseren Tagen ist die Textologie soweit entwickelt wie kaum eine zweite Spezialwissenschaft der Philologien.
Rolf Tiedemann ist seine Lebensleistung sowieso nicht zu nehmen. In Sachen Walter Benjamin sei hier neben seiner Edition an die „Studien zur Philosophie Walter Benjamins“ (1973) und dessen Benjamin-Buch „Dialektik im Stillstand“ (1983) erinnert. 1990 organisierte er zusammen mit Christoph Gödde und Henri Lonitz die große Marbacher Benjamin-Ausstellung. Ein Jahr zuvor erschien dessen Streitschrift „Die Abrechnung“ (1989) über einen Benjamin-Nachlass-Streit im Suhrkamp Verlag, der alsbald beigelegt wurde.
Nicht zuletzt ist Tiedemann der Herausgeber der „Gesammelten Schriften“ von Theodor W. Adorno, die von 1970 bis 1986 in dreiundzwanzig Teilbänden ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschien. Darum darf der Suhrkamp Verlag nicht unerwähnt bleiben, weil er sich für seine Autoren stark macht wie kein zweiter Buchverlag. Welcher Verlag produziert noch in weniger als vier Jahrzehnten zwei Gesamtausgaben seines Autors und hält darüber hinaus viele Einzeleditionen und Taschenbuchausgaben lieferbar?
Von Michael Fisch
Literaturangaben:
BENJAMIN, WALTER: Werke und Nachlass. Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz in Zusammenarbeit mit dem Walter-Benjamin-Archiv.
Band 3: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Herausgegeben von Uwe Steiner. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008. 400 S., 32,80 €.
Band 10: Deutsche Menschen. Herausgegeben von Momme Brodersen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008. 450 S., 36,80 €.
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