BERLIN (BLK) – Im Mai 2010 ist im Suhrkamp Verlag der Roman „Was bin ich wert?“ von Jörn Klare erschienen.
Klappentext: Eine Niere bekommt man in Indien für 300 Euro, ein afrikanisches Adoptivkind „kostet“ mit allen notwendigen Papieren 20000 Euro, eine Frau ist in Albanien unter Umständen schon für 800 Euro zu haben. Hieß es nicht immer: Der Mensch ist keine Ware? Tatsächlich werden Menschenleben nicht nur in fernen Ländern ökonomisch bewertet, ihre Monetarisierung hat auch Deutschland längst erreicht: In Krankenhäusern, Behörden und Personalabteilungen denkt man nach über Fragen wie: „Lohnt“ sich eine Ampel, wenn man den Wert eines Lebens mit 1,2 Millionen ansetzt? „Lohnt“ es sich, ins „Humankapital“ der Mitarbeiter zu investieren? „Lohnt“ es sich, 75jährigen noch neue Hüften einzusetzen? Doch darf man solche Fragen überhaupt stellen? Ist es legitim, die Würde des Menschen ökonomisch zu relativieren? „Was bin ich wert?“: Mit dieser Frage hat sich Jörn Klare auf eine sehr persönliche Recherchereise ins Reich der Menschenwert-Berechner gemacht. Sie führt ihn auf Ämter und ins Gefängnis, zu Politikern und Philosophen, zu Ärzten und Gesundheitsökonomen, aber auch zu seiner kleinen Tochter. Ganz am Ende steht eine konkrete Zahl, auf Euro und Cent genau. Und die Erkenntnis: Die Würde des Menschen ist antastbar – zumindest wenn es sich „lohnt“.
Jörn Klare, geboren 1965, schreibt Reportagen und Features, unter anderem für den Deutschlandfunk und Die Zeit. Für sein Feature »Der Weltgerechtigkeitsbasar« erhielt er 2008 den Robert-Geisendörfer-Preis der EKD. (ton)
Leseprobe:
©Suhrkamp©
Vor ein paar Jahren fing es an. Ich war in Albanien, recherchierte zum Thema Menschenhandel. Ein Mädchen erzählte mir, ihre Schwester sei am Vortag nach Italien verkauft worden. Für 800 Euro. Später reiste ich nach Asien, traf eine Frau in Nepal, die man in ein indisches Bordell entführt hatte. Der „Zwischenhändler“ aus ihrem Dorf hatte 300 Dollar für sie bekommen. Ähnliche Geschichten hörte ich im südlichen Afrika. Und in Bolivien erzählte mir eine Mutter von ihrem geraubten Baby, das man für ein paar tausend Dollar zur Adoption in die USA verschleppt hatte. So lernte ich ganz konkret, daß Menschen nicht nur einen Wert, sondern auch einen Preis haben können. Dann wurde ich in der Berliner U-Bahn Ohrenzeuge eines Gespräches, das sich um einen kurz zuvor geschehenen Raubmord drehte. Der Täter hatte knapp 100 Euro erbeutet. Die beiden jungen Männer diskutierten über die Summe. Knapp 100 Euro für einen Mord fanden sie unsinnig, lächerlich oder besser gesagt: zu wenig. 10 000 Euro, sagte der eine, wäre eine Summe, ab der er die Tat gerade noch nachvollziehen könne. Es klang naiv, nicht bösartig. Doch der andere protestierte. Er bestand auf mindestens 100 000 Euro. Und plötzlich ertappte ich mich bei der Frage, ab welcher Summe ich einen Mord nachvollziehen könnte. Ich erschrak und brach das Gedankenspiel beschämt ab. Zumindest vorläufig. Denn eine Frage, die ich nur aus Entwicklungsländern kannte, war näher gekommen. Fast schon zu nah. Was ist ein Leben wert? Genauer: Wieviel ist ein Leben wert?
Was bin ICH wert? Ich nehme Stift und Papier, versuche eine Bilanz, eine vage Abrechnung meiner Lebensleistungen. Ich habe mal einen Berg bestiegen, der fast 7000 Meter hoch ist, und ich bin auch wieder runtergekommen. Ich kann kochen. Ich telefoniere jede Woche mit meinen Eltern. Ich kann ganz passabel skifahren. Ich habe ein paar gute Freunde. Wenn ich meinen Namen google, finde ich ein paar tausend Einträge. Ich habe kein Auto, kein Haus, keine Yacht und soweit ich mich erinnere auch noch nie einen Baum gepflanzt. Aber ich habe zwei wunderbare Töchter, von denen eine auch noch einen anderen Vater hat. Mit der wunderbaren Mutter bin ich glücklich. Wir teilen Tisch und Bett, Hausarbeit, Erziehungsaufgaben und angenehmerweise auch die finanzielle Verantwortung. Auch davor hatte ich meistens tolle Freundinnen. Für das Selbstwertgefühl eines Mannes ist das nicht ganz unerheblich. Ich kaufe meistens im Bioladen ein und bevorzuge fair gehandelte Produkte. Manchmal spende ich Geld für gemeinnützige Organisationen. Ich habe einen Marathon durchgestanden. Viele der Themen, mit denen ich mich als Journalist beschäftige, haben einen „sozialen Anspruch“. Manchmal bekomme ich Lob von einem Leser oder Hörer. Einmal habe ich auch einen Medienpreis bekommen. Wenn es gut läuft, verdiene ich 3000 Euro im Monat. In Berlin-Kreuzberg ist das viel Geld. Alles Dinge, die mir ein gutes Gefühl verschaffen. Zumindest ziemlich oft. Nicht immer.
Denn auf der anderen Seite sind da die zurückgehenden Haare, der vordrängende Bauch, der überforderte Rücken – kurz: ich bin 45 Jahre alt. Da wird so was schon ein Thema. Ich meine das Selbstwertgefühl. Ich meine die Midlife Crisis. Die ist noch nicht da. Nein. Wahrscheinlich kommt die auch gar nicht. Aber wenn sie vielleicht mal kommen sollte, kann ich sie nicht durch ein neues Cabrio und will ich sie nicht durch eine jüngere Frau verdrängen. Da könnte also ein wohlfundiertes und vielleicht gar monetär gesichertes Selbst-WERT-Gefühl von Vorteil sein. Denn natürlich weiß ich, daß gesellschaftlicher Status, Anerkennung und Wertschätzung sehr oft mit materiellen Fragen, also Besitz und Einkommen verknüpft sind. Wer viel verdient, wird, ob nun in der Bank oder beim Arzt, besser behandelt. So gesehen könnte sich mein persönlicher Geldwert auch auf meinen persönlichen Selbstwert durchschlagen. Nur eine Hypothese. Aber vielleicht hilft es ja.
Andererseits fallen mir Situationen auf, in denen ich so was wie den Wert meines Lebens zumindest intuitiv schon längst berechne. Etwa beim Bergsteigen. Das mache ich gern. Früher war ich oft allein unterwegs und habe Sachen gemacht, die für einen Laien, der ich war und immer noch bin, sehr riskant, heute würde ich sagen: äußerst dumm waren. Ich habe Glück gehabt.
Wenn ich heute mit Ski an den Füßen durch die Berge steige, schließe ich mich einem Bergführer an. Das ist recht teuer, verringert aber potentielle Gefahren. Aber – jetzt kommt es – das Geld ist mir mein Leben wert. Also investiere ich ein paar hundert Euro in die Risikoreduktion, die ich mir von der Erfahrung des Bergführers erhoffe. Aber ist mein Leben deswegen nur ein paar hundert Euro wert? Sicher nicht. Das sind zu viele Fragen. Ich brauche Antworten.
Der Entschluß steht fest. Die Projekte, die ich für die nächsten Monate geplant habe, sage ich ab oder verschiebe sie. Ich schreibe eine Liste. Wen könnte ich fragen? Denn abhängig davon, wen ich frage, werde ich, so meine dringende Vermutung, unterschiedliche Antworten bekommen. Aber vielleicht, so meine heimliche Hoffnung, gibt es auch eine Art Gesamtwert, einen Universalpreis, also meinen Universalpreis. Ich notiere Namen von Einzelpersonen und Institutionen. Die Liste ist lang und wird mit der Zeit noch länger. Recht häufig geht es dabei um Fragen der lebensnotwendigen Gesundheit, das heißt um die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die Bewertung von Behandlungsmethoden, die nötigen oder möglichen Einsparungen. Ich will wissen, was ich wert bin. Ich will Zahlen. Oder noch besser: nur eine Zahl. Und zwar möglichst genau und gern auch möglichst hoch. Das ist wichtig. Es geht ja, ich habe es angedeutet, auch ein bißchen um mein „Selbst-WERT-Gefühl“.
Obwohl – hin und wieder kommt mir ein Zweifel, ein ganz kleiner Zweifel. Will ich es wirklich wissen? Will ich überhaupt einen monetären Wert, einen Preis haben? Und wie wird es sein, wenn ich ihn kenne? Wird dann jede Finanzkrise zur Identitätskrise? Und ist mein Selbstwert inflationsgeschützt? Doch Zweifel, das ist bekannt, dürfen einen Forscher nicht aufhalten. Im Gegenteil. Und was bin ich anderes als ein Marktforscher in eigener Sache? Und da ist noch etwas: Ein Verdacht, dem ich auf den Grund gehen möchte. Er betrifft die „Pekuniarisierung“ der Gesellschaft, das Vordringen ökonomischer Prinzipien, monetärer Berechnungen und Bewertungen in Lebensbereiche, in denen wir diese Prinzipien gar nicht vermuten würden und vermutlich auch gar nicht wollen. Wenn im Geiste des Neoliberalismus anscheinend alles zur Ware und damit zu Geld gemacht werden kann und auch gemacht werden soll – was bedeutet das dann für den Wert des Menschen?
Der erste Weg führt mich zu meiner Liebsten. Wir leben seit zehn Jahren zusammen. Sie sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa, ich am Tisch. Vor mir Papier und Bleistift.
– Was bin ich wert?
Sie läßt ihr Buch sinken, schaut mich fragend an.
– Wie?
– Also: Was bin ich dir wert?
Der fragende Blick bleibt, sie überlegt.
– Sehr viel, natürlich.
– Mhm.
– Mhm.
So kommen wir nicht weiter.
– Meinst du, wenn du entführt würdest oder so was?
Genau. Die Richtung stimmt. Tatsächlich war ich als Reporter schon mal in Afghanistan, Pakistan, Kaschmir, Palästina oder in Regionen Südamerikas, wo man so was nicht absolut
ausschließen kann.
– Ja, zum Beispiel wenn ich entführt würde.
– Also, mein Leben würde ich nicht für dich geben.
– Okay. Was dann?
– Na, eine Hand vielleicht. Dann könnte ich aber nicht mehr
Klavier spielen.
Ich bin gerührt. Es läuft gerade ganz gut bei uns. Ich bin diese Woche mit Kochen dran.
– Und ein Bein auch, glaube ich.
Sie schaut unglücklich und ein wenig zweifelnd. Wahrscheinlich denkt sie gerade an ein Leben mit nur einer Hand und nur einem Bein. Und ich frage mich, welcher Entführer die andere Hand und das andere Bein wohl haben will
– Und was wärest du bereit, für mich zu bezahlen?
Sie schaut weniger unglücklich. Der Gedanke, nur Geld geben
zu müssen, scheint sie zu erleichtern.
– Na, wenn du entführt würdest – alles was ich habe!
– Schön.
– Ich würde auch Schulden machen. Wenn es sein muß, bis an
mein Lebensende.
Wir schauen uns an. Ein zartes Grinsen. Ich will sie weder zu einem Kassensturz zwingen noch mit einem Entführungsszenario unnötig beunruhigen. Wir wechseln das Thema. Ihre Antwort beruhigt mich emotional. Rein ökonomisch bleibt sie unklar und somit etwas unbefriedigend. Ich brauche Sachverstand, genauer gesagt ökonomischen Sachverstand. Der ist bei mir und meinen Freunden nicht sonderlich ausgeprägt. Ein Fachmann muß her. Ich finde ihn in meiner Familie. Ein Betriebswirt mit Diplom, Erfahrung und Erfolg.
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Literaturangabe:
KLARE, JÖRN: Was bin ich wert? Suhrkamp, Berlin 2010, 268 S., 14,90 €
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