Warum sind Briefwechsel oft so spannend? Wir geraten in den Sog fremder Leben, die sich – vor der Verrohung der Briefsitten durch E-Mail und SMS – ausführlich in dem was sie schreiben (und verbergen) selbst darstellen und werden quasi aus erster Hand mit Zeitumständen vertraut, die wir sonst eher durch den Filter historischer Exegese kennen. Wir geraten, wenn denn diese Briefe nicht zu weit zurückliegen, auch insofern in einen seltsamen Zustand, als wir uns vorstellen müssen, wie die Schreiber, die wir als Berühmtheiten in gesetztem Alter erlebt haben, als junge Menschen reagierten.
All dies gilt exemplarisch für ein Buch, das den weit über vierzig Jahre andauernden brieflichen Austausch zweier Protagonisten der Philosophie und Soziologie des 20. Jahrhunderts enthält: Siegfried Kracauer (1889-1966) und Theodor W. Adorno (1903-1969). Dieser hat 1964, also zwei Jahre vor des Freundes Tod, in einem Essay mit dem Titel „Der wunderliche Realist“ seine Sicht auf einen Unangepassten kunstvoll verschlüsselt niedergeschrieben, dabei die Übereinstimmungen und den fortwirkenden Dissens mit liebevoller Strenge dargelegt und so versucht, dem Älteren, von dem in Deutschland allenfalls das berühmte Offenbach-Buch, die Studie „Von Caligari zu Hitler“ (in einer gekürzten, verfälschenden Ausgabe, eine integrale deutsche erschien erst in den siebziger Jahren) und seit 1963 der Essayband „Ornament der Masse“ erhältlich waren, den Wiedereintritt in den Orbit der deutschen Nachkriegskultur zu erleichtern, denn Kracauer war nach seiner späten Emigration aus Paris in die USA (auf dem gleichen Schleichweg, den Walter Benjamin nicht zu Ende gehen konnte) auch nach 1945 in New York geblieben und (von einigen Reisen abgesehen) nicht mehr nach Europa zurückgekehrt; so blieb er im intellektuellen Diskurs der fünfziger und sechziger Jahre, der in der „Frankfurter Schule“ (Horkheimer, Adorno, Pollock und bald deren Schüler) ein wirkmächtiges Zentrum hatte, eher ein Gerücht: das war doch der, der die Analyse von Filmen auf ihren ideologischen Gehalt quasi erfunden hatte! Adorno war beinah allgegenwärtig – Kracauer nicht. New York war weit weg.
Angefangen hatte diese merkwürdige Freundschaft zwischen einem hochbegabten Neunzehnjährigen und dem älteren Mentor in der Erinnerung Adornos so: „Über Jahre hinweg las er mit mir, regelmäßig am Samstag nachmittags, die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich dieser Lektüre mehr verdanke als meinen akademischen Lehrern.“ Im Briefwechsel freilich erscheint der Austausch zuweilen wie eine aus psychologischen wie objektiven Gründen zum Zerreißen gespannte (und doch unlösbare) Fessel. Das liegt auch an ihrem stürmischen Beginn. Im ersten von Kracauer erhaltenen Brief – wir schreiben April 1923 – heißt es: „Ich fühle in diesen Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu dir, dass es mir jetzt so vorkommt, als könnte ich allein gar nicht bestehen…Mein Zustand ist entsetzlich. Ich fürchte so sehr für die Vergänglichkeit dessen, was mir das Teuerste ist, der Sinn oder die Erfüllung meines Daseins ist. Glaubst Du an die ewige Dauer unserer Freundschaft?“ Adorno muss daran wohl geglaubt haben, auch wenn er nach weiteren drängenden Briefen, eine gewisse Distanz zwischen sich und den Freund legte. Kurz nach seiner ersten Dissertation (mit einundzwanzig Jahren!) ging er nach Wien, um bei Alban Berg und Arnold Schönberg Musik zu studieren. Er erzählt aus der österreichischen Hauptstadt von seinen ersten Eindrücken, von den Begegnungen mit den modernen Komponisten, den Freunden und Gegnern der neuen Musik und nur in einem fast beiläufigen Einschub heißt es: „Ich bin dauernd traurig, einsam, ohne l’enthousiasme…und habe Sehnsucht nach Dir, mit dem ich nun einmal, sei’s zu welchem Ende auch immer, auf Tod und Leben verknüpft bin.“ Und er unterschreibt, im April 1925: „In treuer Passion Dein Teddie.“
Bei „Teddie“ und „Friedel“ ist es in den Anreden lebenslang geblieben. Kracauer beginnt bald, sich einen Namen als Autor in Zeitschriften zu machen. Später wird er zur Redaktion der „Frankfurter Zeitung“ gehören und sie für lange Jahre - bis 1933 - als Kulturredakteur in Berlin vertreten. Mit welch scharfen, an den Phänomen orientiertem Blick er seine Umwelt wahrnahm, das kann man im „Ornament der Masse“, dem Buch, das er Adorno widmete, nachlesen.
Immer wieder tauchen in den frühen Briefen Schatten der Verstimmung auf, die sich nicht nur auf die jeweiligen Frauenbekanntschaften beziehen, sondern, wichtiger, auf das, was die beiden denken und schreiben, wobei Adorno alleweil der Entschiedenere ist: er löst sich langsam von seinem Mentor: der beharrt auf seiner Art, die Welt zu sehen, während sein früherer Zögling sich einerseits beginnt in gewagte philosophische (und musiktheoretische) Spekulationen einzulassen, andererseits zuweilen ziemlich fröhlich und mit spitzer Zunge sich über seine Umgebung lustig zu machen, die ja nicht nur aus Neutönern bestand, sondern auch aus dem, was den k.u.k. Überresten als „feine Gesellschaft“ galt, deren Ikone Alma Mahler-Werfel war. In diesen und den folgenden Jahren sind viele Briefe Kracauers verloren gegangen, die Adornos blieben erhalten. Es gibt dann auch lange Pausen, einige, die gewiss durch Gespräche und nahen Umgang miteinander in Frankfurt zu ersetzen wären, andere, die auf eine zunehmende Entfremdung zwischen beiden hindeuten mögen.
Immerhin haben sie in den zwanziger Jahren einige große Reisen nach Italien gemeinsam unternommen. Manchmal wirkt Adorno, gerade mal zweiundzwanzigjährig, wie ein altkluges Kind (von dem sich bis ins hohe Alter übrigens viel erhalten hat – man lese die „Minima Moralia“ oder die zärtlich-komischen Epistel an seine Eltern), so wenn er Kracauer 1925 folgende Belehrung erteilt: „Für mich hat der Optimismus, und gerade der flache – es gibt ja eigentlich nur flachen, wo das Wort gilt! – etwas sehr Rührendes und er scheint mir in der paradoxen Existenzbehauptung, die er stets meint, tiefer als der identitätsgläubige Pessimismus.“
Solche Klarstellungen entfalten sehr schön die sich bildende Denkrichtung Adornos. Der Philosoph spricht, der bald seine erste (verworfene) Habilitationsschrift schreiben wird. Erst die zweite, 1931 angenommene wird ihm zum Titel des Privatdozenten in Frankfurt erhelfen, derweil Kracauer längst (seit 1928) als Zeitungsredakteur allen akademischen Ehrgeiz – wenn es ihn denn je gab – längst beiseite gesetzt hatte. Die Freunde streiten über die Bedeutung von Kunst, schlagen sich mit deren Zukunft „nach der Revolution“ herum, von der doch beide schon wissen, dass sie nicht kommen wird. Diese höchst aufschlussreichen Briefe durchweht zuweilen noch der schrille Ton eines komplizierten persönlichen Ablösevorgangs, der mit ausufernden theoretischen Erörterungen einhergeht und um 1929 in einer Art Waffenstillstand endet: beide haben ihre Lebenspartnerinnen gefunden und beide wissen, dass sie den grundsätzlichen Dissens in ihrem Denken und also im Blick auf die Welt werden aushalten müssen.
Nach Adornos Rückkehr an die Frankfurter Universität, wo er an der neuen Habilitationsschrift arbeitet und Musikkritiken schreibt (oft unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler), gehen die Briefe zwischen Frankfurt und Berlin hin und her, man schreibt über die jeweiligen Arbeiten, über Freunde, über kurrente Theorien, es ist ein weithin entspanntes Gespräch über das, was sie betrifft. Gelegentlich schlägt die alte Freude am Theoretischen durch.
Von Politik, von den Spannungen und Verwerfungen in der späten Weimarer Politik, vom Aufstieg Hitlers: kein Wort! Dabei hätten sie es wissen müssen, betrachteten sie sich doch beide als Marxisten, als solche freilich unorthodox, jeder Parteibindung abhold. Noch am 15. April 1933 schreibt Adorno dem bereits geschassten, nach Paris ausgewichenen Kracauer: „Im Übrigen ist mein Instinkt für Dich der: nach Deutschland zurückzukommen. Es herrscht völlig Ruhe und Ordnung: ich glaube die Verhältnisse werden sich konsolidieren.“ Er jedenfalls will bleiben und nach der Relegation als Universitätslehrer ein „staatliches“ Musiklehrerexamen machen. Danach gibt es zwei Jahre keine Briefe mehr. Die wechselvollen, meist miserablen Existenzbedingungen von Emigranten bleiben lange unberedet. Zwar verlässt auch Adorno Deutschland und geht nach Oxford, um dort einen Ph.D., als Voraussetzung einer akademischen Karriere in angelsächsischen Ländern zu erwerben, aber er kehrt immer wieder nach Deutschland zurück: er braucht Geld (von seinen Eltern) und er braucht Gretel Karplus, die promovierte Chemikerin, die in Berlin eine kleine Fabrik leitet und die er, nach der definitiven Emigration beider 1937 in England heiratet.
Auch wenn Kracauer in seiner prekären finanziellen Situation in Paris immer wieder einmal auf Hilfe durch das „Institut für Sozialforschung“ rechnen kann ( weil dessen Leiter Horkheimer das Stiftungskapital des Instituts bereits vor 1933 in die Schweiz transferiert hatte), so bleibt es doch ein elendes Leben, was die Freunde nicht hindert, sich, als sie den Briefwechsel wieder aufnehmen, ausführlich über Adornos Verdammung des Jazz in die Haare zu kriegen. Und mehr noch über Kracauers Offenbach-Biografie (sein einziges Erfolgbuch!), die der Jüngere mit einer beispiellosen Rücksichtslosigkeit niedermacht. Jede andere Freundschaft wäre an einer so rüden Ablehnung, die eine mögliche Veröffentlichung in der Schriften des Instituts betraf, zu dessen auswärtigen Mitgliedern (die Zentrale war längst in Amerika) Adorno gehörte, zerbrochen: diese ist es nicht. Die Kontrahenten sehen sich in Paris und streiten weiter miteinander. Noch einmal, zum vorletzten Mal, stoßen ihre unvereinbaren intellektuellen Haltungen hart aufeinander.
Danach geht Adorno nach New York, später nach Los Angeles, arbeitet für das Institut, (dessen Revenuen dank missglückter Börsenspekulationen immer geringer wurden) und für alle möglichen von Stipendien gedeckten soziologischen Untersuchungen. Er tut alles, was in seiner Macht steht, um auch Kracauer die Flucht über den Atlantik zu ermöglichen. Sie gelingt. Doch Kracauer muss sich (wie so viele der emigrierten Intellektuellen) mühsam mit gering bezahlten Forschungsaufträgen durchbringen, kann seine eigenen Bücher nur nebenbei schreiben. Die Briefe zwischen New York (wo Kracauer geblieben war) und Los Angeles werden seltener: sie beziehen sich auf Projekte, mit denen sich der Lebensunterhalt verdienen lässt, aber eben auch sehr ausführlich auf diese Projekte selbst: der geistige Austausch hat alle persönlichen Meinungsunterschiede überstanden. Das letzte Mal kommen sie bei einem Treffen im August 1960 – da war Adorno längst Professor in Frankfurt und in Deutschland ein berühmter Mann – zur Sprache, in der Schweiz. Kracauer hat von dieser ebenso erbitterten wie profunden Diskussion ein (englisch geschriebenes) Protokoll hinterlassen: über die „Dialektik“ gab es keine Einigung zwischen den beiden.
Was dann bis zu Kracauers Tod folgt, sind Briefe voller liebevoller Freundlichkeit, von vorsichtiger Kritik (und viel Zustimmung) an den jeweiligen Publikationen, die mit herzlichen Widmungen hin und her gehen, sind Berichte vom alltäglichen Leben (samt Adornos Begründungen für seine Rückkehr, deren tiefste seine Bindung an die deutsche Sprache und das Amorbach seiner Kindheit gewesen sein mögen.) Beide hatten das Ihrige gesagt, so können sie nun miteinander umgehen als die älter gewordenen Freunde, die aneinander gebunden bleiben. Im Oktober 1950 schreibt Adorno, nach einem Besuch in Amorbach, dem Paradies seiner Kindheit: „wo sich so wenig verändert hat, dass ich zum ersten Mal etwas wie ein Gefühl von Heimat hatte, soweit es so etwas überhaupt noch gibt und geben darf.“
Kracauer war dies Gefühl nicht vergönnt, keiner seiner Besuche in Europa bis zu seinem Tod hat es hervorgerufen – für ihn war New York längst zur „Heimat“ geworden. Wenn er kam, um seine geistige (also publizistische) Wiedereingliederung in eine sehr veränderte Kulturlandschaft zu fördern und im Suhrkamp Verlag, der ja auch Adorno (und Bloch) verlegte, einen neuen Partner zu finden (dabei immer wieder von seinem alten Freund tatkräftig unterstützt), war die Rückkehr in die USA nie infragegestellt. Im Juli 1966 hatte er noch Urlaub in der Schweiz gemacht, im November desselben Jahres ist er in New York gestorben. Adorno hat ihn nur um drei Jahre überlebt. Aber seine „Negative Dialektik“, einer der Streitpunkte zwischen den beiden, die wurde fertig.
In einem F.Z.-Feuilleton Kracauers aus dem Jahr 1930 über den Abriss der Berliner „Lindenpassage“ (zwischen Unter den Linden und Friedrichstraße) heißt es am Ende: „Alle Gegenstände sind mit Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält und später einmal wer weiß was ausbrüten wird – vielleicht den Fascismus (!) oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?“ So steht es im „Ornament der Masse“. Und damit hätte der Pessimist, als den der junge Adorno seinen Freund schalt, dieser „wunderliche Realist“ doch Recht behalten gegen den verzweifelten „Optimisten“ Adorno, der am Ende der „Minima Moralia“ seine Utopie jenseits aller Dialektik beschwor: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellen. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.“
In keinem Briefwechsel, selbst nicht in denen Adornos mit Horkheimer oder Benjamin, werden die Aporien der Freundschaft und ihre Überwindung in einer Solidarität ohne Einschränkung so deutlich wie in dem Adornos mit Kracauer. Das Werk des einen kennen wir nun in allen Verästelungen, das des anderen bleibt in der neuen kritischen Gesamtausgabe, die langsam fortschreitet, wiederzuentdecken.
Von Roland H. Wiegenstein
Literaturangabe:
ADORNO, THEODOR W. / KRACAUER, SIEGFRIED: Briefwechsel 1923-1966. „Der Riss der Welt geht auch durch mich“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 771 S., Leinen, 32 €.
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