Werbung

Werbung

Werbung

Wegweiser durch das Dickicht der Literatur- und Kulturtheorie

Ansgar Nünnings (Hrsg.) „Metzlers Lexikon Literatur- und Kulturtheorie“

© Die Berliner Literaturkritik, 23.05.08

 

STUTTGART (BLK) – Das „Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie“ ist in 4. Auflage im April 2008 im Metzler-Verlag erschienen.

Kultur- und literaturwissenschaftliche Theorien sind äußerst vielgestaltig. Doch welche Konzepte sind relevant? Welche Begriffe spielen eine tragende Rolle? Wie haben sich die literaturgeschichtlichen Modelle entwickelt? Welche Autoren prägen die gegenwärtigen Diskurse? Über 760 kompakte Artikel erklären abstrakte Begriffe und komplexe Modelle und vermitteln gut verständliches Grundlagenwissen. Im Mittelpunkt stehen die großen Theorien wie z.B. Dekonstruktion, feministische Literaturtheorie, Konstruktivismus, New Historicism, Mentalitätsgeschichte, postkoloniale Literaturkritik und Poststrukturalismus. Kein bedeutender Theoretiker und kein zentraler Begriff werden außer Acht gelassen.

Ansgar Nünning (geb. 1959) ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Gründungsdirektor des „Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften“ (GGK) sowie des im Rahmen der Exzellenzinitiative geförderten „International Graduate Centre for the Study of Culture“ (GCSC). Bei J.B. Metzler ist erschienen „Einführung in die Kulturwissenschaften“, 2008; „Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren“, 2002 (Mitherausgeber) und „Handbuch Promotion“, 2007 (Mitherausgeber). (fri/wip)

Leseprobe:

© J.B. Metzler ©

 

Vorwort zur vierten Auflage

Ten Years After: Zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Lexikons wird hiermit die wiederum vollständig aktualisierte und erweiterte vierte Auflage vorgelegt. Sowohl die ungebrochen positive Resonanz und anhaltende Nachfrage als auch die Tatsache, dass dieses Lexikon inzwischen in einer tschechischen und einer koreanischen Übersetzung vorliegt, unterstreichen, dass das weite Feld der Literatur- und Kulturtheorie nach wie vor zu den produktivsten und dynamischsten Bereichen der Literatur- und Kulturwissenschaften gehört. Als ein weiteres Indiz dafür mag auch das Erscheinen einer neuen Fachzeitschrift für Literaturtheorie, des Journal of Literary Theory (Berlin: de Gruyter 2007ff.), gelten, das ebenso Unkenrufe vom ‚Ende’ oder ‚Tod’ der Literaturtheorie Lügen straft wie die anhaltende Entwicklungneuer literatur- und kulturtheoretischer Ansätze und Grundbegriffe. Die mit dem Bolognaprozess und der Einführung der neuen BA-/MA-Studiengänge einhergehende Re-Kanonisierung und Aufwertung des exemplarischen Lehrens und Lernens tragen zusätzlich dazu bei, dass eine fundierte Kenntnis literatur und kulturtheoretischer Ansätze und Grundbegriffe für Studierende aller geistes-, kultur und sozialwissenschaftlicher Fächer weiterhin von großer und sogar noch gestiegener Bedeutung ist.

Damit dieses Lexikon Leser/innen auch weiterhin als ein zuverlässiger und aktueller Leitfaden durch das Dickicht aller wichtigen Ansätze, Theoretiker/innen und Grundbegriffe dient, wurde die hier vorgelegte vierte Auflage, in der die bewährte Konzeption der ersten bis dritten beibehalten wurde, um etwas mehr als fünfzig neue Lemmata ergänzt. Außerdem wurden abermals nicht nur die Schlussbibliographie, sondern auch alle Artikel (soweit erforderlich) bibliographisch – und z. T. auch inhaltlich – aktualisiert.

Darüber hinaus wurden – auf Wunsch des Verlages und vieler Leser/innen – die Orthographie und Zeichensetzung in dieser Auflage auf die neue Rechtschreibung umgestellt. Das breite Spektrum der neuen Beiträge umfasst zunächst einmal ein Dutzend Überblicksartikel zu neuen Ansätzen, die zukunftweisende Kristallisationspunkte interdisziplinärer Theoriebildung und kulturwissenschaftlicher Forschung markieren. Als übergreifende Artikel wurden folgende Lemmata neu aufgenommen:

„Afroamerikanische Literaturtheorien“, „Bildwissenschaft“, „Biopoetics/Evolutionäre Literaturpsychologie“, „Iconic turn“, „Kognitive Poetik“, „Lebenswissen und Lebenswissenschaften“, „Material Culture Studies“, „Narrativistische Ansätze“, „New Economic Criticism“, „Raumtheorien“, „Spatial turn“, „Trauma und Traumatheorien“ sowie „Visual Culture Studies“. Zum anderen wurde auch diese Neuauflagewieder gezielt um einige bislang nicht berücksichtigte bzw. in den letzten Jahren in das Zentrum der Diskussion gerückte literatur- und kulturtheoretische Grundbegriffe ergänzt. Deren Spektrum reicht von Abduktion, Abjekt, Contact zone, Dialogische Theorie, Diaspora und Dingkultur über die Erklären-Verstehen-Debatte, Enzyklopädie, Fetisch/Fetischismus, Genealogie, Generation, Geokulturologie, Gestalttheorie, Glokal/Glokalisierung, Grenze/Grenzziehung, Imaginative geography, Kontextualisierung, Kreolisierung, „Kultur als Text“, Kulturbegriffe, Kulturelles Wissen, Metaisierung, Multimodalität und Relativismus bis zu Skripte, Spektakel, Spur, Stimme, Symbolische Formen, Synkretismus, Transgression, Transnational/ Transnationalität, Transversalität sowie Zeitdarstellung/Zeitstruktur. Überblickt mandie neu aufgenommenen Ansätze und Grundbegriffe, so reflektiert die Auswahl zugleich die besonders einflussreichen Neuorientierungen in den Literatur- und Kulturwissenschaften der letzten Jahre – wie etwa den iconic turn, den narrative turn und den spatial turn bzw. das gewachsene Interesse an den visuellen, räumlichen und materiellen Dimensionen von Kultur bzw. an der Kultur der Dinge. Außerdem wurden mit Giorgio Agamben, Aleida und Jan Assmann, Mieke Bal, Guy Debord, Michel de Certeau und René Girard einige Literatur- und Kulturtheoretiker/innen neu aufgenommen, die bislang nicht berücksichtigt worden waren und/oder die in den letzten Jahren schulebildend gewirkt und international Furore gemacht haben. Auf die Aufnahme weiterer Lemmata aus der Ästhetik und der Theatertheorie wurde hingegen verzichtet, weil mit dem von Achim Trebeß herausgegebenen Metzler Lexikon Ästhetik (Stuttgart/Weimar: Metzler, 2006) und dem von XI Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat herausgegebenen Metzler Lexikon Theatertheorie (Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005) inzwischen aktuelle und zuverlässige Nachschlagewerke zu diesen wichtigen Bereichen der Theoriediskussion erschienen sind.

Abgerundet wird diese aktualisierte und überarbeitete Neuauflage durch die Einfügung einiger neuer Verweislemmata, die ebenso wie die Aktualisierung der Auswahlbibliographie am Ende des Bandes sowie der Literaturangaben in den meisten Artikeln gewährleisten soll, dass sich Benutzer/innen des Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie auch weiterhin möglichst schnell und auf dem neuesten Stand über alle relevanten Ansätze, Personen und Grundbegriffe der Literatur- und Kulturtheorie informieren können.

*

Den inzwischen mehr als zweihundertzwanzig Autorinnen und Autoren, die die Artikel für dieses Lexikon geschrieben haben, sowie allen, die im Vorwort der ersten bis dritten Auflage namentlich genannt sind, möchte ich abermals sehr herzlich für die ertragreiche Mitarbeit an diesem Projekt danken. Ideen für die Aufnahme neuer Artikel stammen von engagierten Leser/innen und Kolleg/innen, denen ich für den ebenso anregenden wie fruchtbaren Dialog sehr dankbar bin. Über positive Rückmeldungen, Anregungen aller Art und natürlich auch kritische Anmerkungen freut sich auch weiterhin: Ansgar.Nuenning@anglistik.uni-giessen.de.

Wertvolle Anregungen für die neue und erweiterte Auflage verdanke ich außerdem vielen Kolleg/innen, Doktorand/innen und Studierenden, die an interdisziplinären Forschungseinrichtungen wie dem Giessener Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“, dem „Giessener Graduiertenzentrum Kulturwissenschaften“ (GGK), dem DFG-Graduiertenkolleg „Transnationale Medienereignisse“ sowie dem fünf Jahre vom DAAD und nun von der Justus-Liebig-Universität geförderten Internationalen Promotionsprogramm „Literatur- und Kulturwissenschaften“ (IPP) beteiligt sind. Vor allem die intensive Zusammenarbeit in diesen Forschungseinrichtungen sowie in dem seit 2006 im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geförderten „International Graduate Centre for the Study of Culture” (GCSC) hat mich in den letzten Jahren nachdrücklich in meiner Überzeugung bestärkt, dass interdisziplinärer und internationaler Dialog sowie kollegiale Zusammenarbeit gerade für die Literatur- und Kulturwissenschaften nicht nur überaus anregend, sondern sogar (über-)lebensnotwendig sind. Vielmals danken möchte ich daher allen Mitarbeiter/ innen des GGK/GCSC und der ersten Generation von Stipendiat/innen und Doktorand/ innen des GCSC – vor allem Simon Cooke, Matthis Danelzik, René Dietrich und Lutz Hengst, deren scharfsinnigen Diskussionsbeiträgen ich ebenso etliche Anregungen verdanke wie den wertvollen Hinweisen von Guido Isekenmeier, Michael C. Frank und den tschechischen Kolleg/innen, die die tschechische Übersetzung besorgt haben. Besonders herzlich danken möchte ich meinen Kolleg/innen und Freunden Astrid Erll, Marion Gymnich, Wolfgang Hallet, Birgit Neumann und Roy Sommer, die mir mit ihrer ansteckenden Begeisterung, ihrer Fröhlichkeit sowie ihrem unglaublichen Engagement, Ideen- und Kenntnisreichtum immer wieder wichtige Denkanstöße, Motivation und viel Freude an der Arbeit sowie das Gefühl gegeben haben, dass sich die ganze Arbeit lohnt.

– Bei den bibliographischen Recherchen, der Überprüfung von Angaben und beim Korrekturlesen hat sich mein ebenso tüchtiges wie nettes neues Gießener Team – namentlich Alexandre Segao Costa, Meike Hölscher, Ilke Krumholz, Anna Schewelew, Daniela Siener, Anne Kristina Stoll and Anna Weigel – große Verdiente erworben. Sehr herzlich danken möchte ich auch meiner Sekretärin Rose Lawson, die trotz Dauerund Mehrfachbelastung immer alles bestens im Griff hat und dabei nie ihre gute Laune verliert, und meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Ronja Tripp, die den Löwenanteil der redaktionellen Feinarbeiten mit größter Akribie koordiniert und erledigt hat und deren Enthusiasmus sowie vorbildliche Kompetenz, Leistung und Zuverlässigkeit denen ihrer Vorgängerinnen, vor allem Prof. Dr. Carola Surkamp (jetzt Universität Göttingen) und Dr. Stella Butter (jetzt Universität Mannheim), in nichts nachstehen. Nicht nur weil sie mehr Anteil als alle anderen an allen Projekten hat, gebührt der größte Dank aber wie immer Vera.

Gießen, im November 2007 Ansgar Nünning

*

Abduktion (lat. abducere: wegführen; engl. abduction: Entführung), bezeichnet nach C. S. ä Peirce ein bes. Schlussverfahren, das als „first step of scientific reasoning“ (Peirce 1931–1958, 7.128) den Prozess des Aufstellens von Hypothesen bestimmt (ebd., 5.189). Nach Peirce ist die A. „the only logical operation which introduces any new idea“ (ebd., 5.171), die somit die Prämissen für nachfolgende deduktive und induktive Schlüsse findet oder erfindet. Geht die Wissenschaftstheorie (vgl. K. Popper, Logik der Forschung, 1934) davon aus, dass die Vorgänge des Aufstellens von Hypothesen sich nur psychologisch untersuchen lassen, fasst Peirce die A. als Inferenz, „asserting its conclusion only problematically or conjecturally“ (Peirce 1931–1958, 5.188). Die A. ist als „reasoning from consequent to antecedent“ (ebd., 6.469) ein Rückschluss („Retroduction“), der weniger auf logische Gültigkeit, denn auf eine plausible Erklärung abzielt. Entscheidend für Peirce ist dabei, dass der abduktive Prozess gleichwohl in einer logischen Form, darstellbar’ ist: “The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course; Hence, there is reason to suspect that A is true” (ebd., 5.189). Die Frage ist natürlich, wie man auf die Vermutung ‚A’  kommt, d. h., wie man subjektive Assoziationen in plausible Argumentationen transformiert. Für Peirce spielt hierbei ein durch Erfahrung geschärfter ‚Rate-Instinkt’ eine zentrale Rolle, denn er behauptet, die A. sei „after all, nothing but guessing“ (ebd., 7.219). So besehen ist die A. als „skill for scientific guessing“ (Polanyi 1969, S. 144) eine Form von „tacit inference“, die durch implizit wirksame Strategien der Rationalisierung von Rateprozessen gesteuert wird, nämlich insbes. durch forschungsökonomische Maximen, kulturell geprägtes Vorwissen (s. Wissen, kulturelles) und theoretische s. Präsuppositionen. Fasst man kulturelle Prägungen als ä symbolische Form im Sinne E. ä Cassirers (vgl. Wirth 2007), dann lassen sich mit Hilfe des A.konzepts wichtige Einsichten für eine auf Zeichenprozessen (s. Zeichen und Zeichensystem) fußende ›Logik der ä Kulturwissenschaft‹ gewinnen. Die A. ist der erste Schritt aller Prozesse der Zeichendeutung, die eine Kopplung von Beobachtung und Theorie vornehmen – etwa im Rahmen der Psychoanalyse, die S. s. Freud als Verfahren bezeichnet, „Geheimes und Verborgenes zu erraten“ (Freud 1999 [1914], S. 186). Dabei werden Symptome nicht mehr im Rahmen eines ‚Indizienparadigmas’ (Ginzburg 1985) ‚gefunden’, sondern durch abduktive Operationen theoriegeleiteten Ratens ‚hergestellt’. Dies gilt auch mit Blick auf das ‚divinatorische Verfahren’ der Philologie, wo mit Hilfe von s. Konjekturen Textfehler korrigiert und monumentale wie systematische s. Leerstellen ergänzt werden, indem man „errät [. . .], was der Sinn sein muß“ (Schleiermacher 1977 [1838], S. 283). Dies betrifft nicht nur die Textkonstitution, sondern insbes. die Textinterpretation (s. Interpretation). So verwendet U. s. Eco die Ausdrücke Konjektur und A. synonym und rekurriert auf sie als ‚operational mode’ der Kohärenzstiftung (s. Kohärenz) im Wechselspiel von Leser, Text und Autor (vgl. Eco 1987, S. 111f.). Lit.: F. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, FfM. 1977 [1838]. – S. Freud: „Der Moses des Michelangelo“ [1914]. In: ders.: Gesammelte Werke, Bd. X, FfM. 1999. S. 172–201. – C. S. Peirce: Collected Papers, Bde. 1–8 (Hgg. C. Hartshorne et al.), <ST1:CITY W:ST="on"><ST1:PLACE W:ST="on">Cambridge</ST1:PLACE></ST1:CITY> 1931–1958. – M. Polanyi: “The Logic of Tacit Inference “. In: ders.: Knowing and Being, <ST1:PLACE W:ST="on"><ST1:CITY W:ST="on">Chicago</ST1:CITY></ST1:PLACE> 1969. S. 138–158. – C. Ginzburg: “Indizien. Morelli, Freud und Sherlock Holmes”. In: U. Eco/ Th. Sebeok (Hgg.): Der Zirkel oder im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, Mchn. 1985. S. 125–179. – U. Eco: Lector in fabula, Mchn. 1987. – U. Wirth: „Die Phantasie des Neuen als A.“. In: DVjs 77.4 (2003) S. 591–618. – ders.: „Die Konjektur als blinder Fleck einer Geschichte bedingten Wissens“. In: C. Welsh/St. Willer (Hgg.): Interesse für bedingtes Wissen, Mchn. 2007. S. 269–294.

UW

Abjekt (lat. abiectus: niedrig, verworfen, gemein), ein von J. ä Kristeva eingeführtes psychoanalytisches Konzept (ä Psychoanalytische Lit. wissenschaft), das v. a. in der engl.sprachigen Forschung vielfache Anwendung gefunden hat. Es handelt sich um eine Substantivierung des frz. Adjektivs abject und mithin einen Neologismus der Autorin. Ausgangspunkt Kristevas sind Dinge, die beim Menschen eine heftige, wenn auch mit einem Gefühl der Anziehung einhergehende Abwehrreaktion (»Abjektion«) hervorrufen – von Körperausscheidungen bis hin zur Haut auf gekochter Milch. Eine Erklärung für die Verwerfung derartiger Dinge sucht Kristeva im Prozess der Subjektkonstitution (ä Subjekt und Subjektivität), der mit der Loslösung vonder Mutter beginnt: „A.“ steht bei Kristeva für all das, was das Ich von sich abspalten muss – aber nie voll und ganz von sich abspalten kann –, um Abjekt 1 von seinem urspr., vorsprachlichen Zustand jenseits der Subjekt-Objekt-Differenz in die symbolische Ordnung einzutreten, die nach Kristevas Modell auf eben dieser Differenz basiert. Anders als das Objekt, das dem Subjekt als dessen Korrelat gegenübersteht und ihm laut Kristeva erlaubt, weitgehend losgelöst und autonomzu sein, ist das A. Folge einer unvollständigen Abgrenzung, welche s. Ambiguität erzeugt und die Trennlinie zwischen Ich und Anderem, Innen und Außen verwischt. Das A. stellt für das Subjekt eine stete regressive Versuchung dar, zurückzufallen in einen Zustand vor der Differenz, außerhalb der symbolischen Ordnung. Wie Kristeva unterstreicht, erscheint dementsprechend all das als A., was »eine Identität, ein System, eine Ordnung stört«, indem es „die Grenzen, Orte und Regeln missachtet“ – nämlich das »Dazwischen (l’entre-deux), das Zweideutige, das Gemischte« (Kristeva 1980, S. 12; Übers. MCF; ä Hybridisierung; ä Grenze/ Grenzziehung; ä Raumtheorien, kulturwissenschaftliche). Kristevas Konzepte des A.s und der Abjektion sind v. a. in der feministischen Theorie (s. Feministische Lit.theorie) aufgegriffen worden. So entwickelte sie etwa J. ä Butler (1993) in ihrer konstruktivistischen Geschlechtertheorie (s. Gender Studies) zum Konzept der „abject bodies“ weiter, während B. Creed (1993) die Assoziation von Mütterlichkeit mit Monstrosität in Horrorfilmen beleuchtete. Ein weiteres wichtiges Anwendungsgebiet hat das Konzept des A.s innerhalb der postkolonialen Theorie (ä Postkoloniale Lit.theorie und -kritik) zur Beschreibung des ambivalenten Status des ›Anderen‹ im kolonialen Diskurs (vgl. z. B. Spurr 1993, S. 76–91; McClintock 1995, S. 71–74). Bei Kristeva selbst werden Autoren der ä Moderne wie F. Dostojewski, M. Proust, J. Joyce, L. Borges und A. s. Artaud als Beispiele für die literar. Exploration – und ä Sublimierung – des A.s aufgeführt. Lit.: J. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980 (engl. Powers of Horror. An Essay on Abjection, N.Y. 1982). – J. Butler 1993 (dt. 1995). – B. Creed: The Monstrous-Feminine. Film, Feminism, Psychoanalysis, Ldn. et al. 1993. – D. Spurr: The Rhetoric of Empire. Colonial Discourse in Journalism, Travel Writing, and Imperial Administration, Durham et al. 1993. – A. McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, N.Y./Ldn. 1995.

MCF

© J.B. Metzler ©

Literaturangaben:
NÜNNING, ANSGAR (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen – Grundbegriffe: 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. J.B. Metzler, Stuttgart 2008. 808 S., 29,95 €.

Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: