Von Susanna Gilbert-Sättele
Der bald 84-jährige Dieter Wellershoff ist für seine Schriften, Essays und Romane vielfach ausgezeichnet worden. Wie in seinem letzten Roman „Liebeswunsch“ schildert er auch in seinem neuen Werk mit dem Titel „Der Himmel ist kein Ort“ Menschen in Grenzsituationen. Hier wird ein Konflikt noch dadurch verschärft, dass die Hauptperson ein Pfarrer ist, von dem man erwartet, dass er Krisen von Berufs wegen problemlos meistern kann.
Pfarrer Ralf Henrichsen lebt allein in einem riesigen Pfarrhaus einer Landgemeinde. Aber eigentlich ist er weder dort noch bei sich angekommen. Selbst nach eineinhalb Jahren hat er es nicht vermocht, sich ein Zuhause zu schaffen oder gar die missglückte Beziehung zu seiner ehemaligen Geliebten zu verarbeiten. Einzig die klar definierten Anforderungen an einen Gemeindepfarrer geben seinem Leben Struktur. Eines Tages wird er als Diensthabender der Notfallseelsorge zu einem Unfall gerufen, bei dem ein Auto mit Vater, Mutter und Kind in einen Fluss gestürzt ist. Die Mutter ertrinkt, das Kind wird halb tot geborgen und später auch sterben.
Henrichsen soll Karbe, dem Vater, seelsorgerisch zur Seite stehen. Er weiß nicht wie. Nicht nur ist Karbe ein spröder, verschlossener Mann, dem Sympathie entgegen zu bringen schwierig ist. Henrichsen spürt vor allem auch, dass ihm sein eigener Glaube abhanden gekommen ist, dass an dessen Stelle Unsicherheit und tiefe Zweifel getreten sind, dass er keinen Trost spenden kann, weil er selbst nichts Tröstliches spürt. Beim Beten „hatte er immer das Gefühl, dass sich in der Tiefe der Welt nichts rührte“. Der Himmel ist ihm kein Ort der Zuversicht mehr.
Bald ist in der Gemeinde das Urteil gesprochen: Karbe, der Lehrer an einer hiesigen Schule, hatte seine Frau als Schülerin kennen gelernt, geschwängert und dann gegen den Willen ihrer einflussreichen Familie geheiratet. Er war eifersüchtig, weil sie ihn angeblich verlassen wollte. Aus dem überlebenden Opfer wird ein mutmaßlicher Täter, der seine Familie umbringen wollte.
Auch Henrichsen hat seine Zweifel, aber er klammert sich an die letzten Reste seiner christlichen Glaubenslehre - an die Unschuldsvermutung vor allem. Zugleich wächst Wut in dem Geistlichen, weil bei ihm, dem Pfarrer «in der selbstverständlichen Unterstellung, dass er dafür zuständig sei», der seelische Müll abgeladen wird.
Bei einer Hochzeitsfeier, der er von Amts wegen beiwohnt, trifft er eine um vieles ältere Frau, die danach eine für Henrichsen verblüffend offene, leidenschaftliche Korrespondenz mit ihm beginnt. Sie weckt seine verschütteten Sehnsüchte und verloren geglaubte Liebesfähigkeit. Er schreibt ihr zurück, besucht sie spontan, das Treffen endet in einem Fiasko. Seinen Tiefpunkt als Pfarrer erlebt er, als ihm während des Gottesdienstes mitten im Glaubensbekenntnis die Stimme versagt. Mit einer einstweiligen Beurlaubung holt ihn sein Vorgesetzter von der Kanzel, Henrichsen nimmt es resigniert hin.
Er besucht ein kirchliches Seminar, das die Frage stellt, wie sich die Kirche heute positionieren kann, er erhofft sich Antworten auf seine eigenen Zweifel, vergeblich. Wellershoff seziert Gedanken und Gefühle, entlarvt Sentimentalität und lässt Heuchelei nicht zu. Optimismus als Lebensgefühl ist nicht sein Ding.
Literaturangabe:
WELLERSHOFF, DIETER: Der Himmel ist kein Ort. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 299 S., 19,95 €.
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