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Weltverbesserer an der Grenze

In „Am Rubikon“ erzählt André Müller sen. seine Version von ’68

© Die Berliner Literaturkritik, 04.11.08

 

Von Björn Hayer

Nur wenige Fragen wurden in Wissenschaft und Kultur häufiger behandelt als die Frage nach dem Sinn von Literatur. Ist sie lediglich l’art pour l’art oder besteht sie etwa als Zweckmedium zur gesellschaftlich-kulturellen Konversion? Will sie antreiben, erzählen oder lediglich Vergangenes reflektieren? Obgleich die Definitionsansätze mannigfaltiger Natur sein mögen, ist allerdings eine charakteristische Essenz in allen Antworten immer zu erkennen: Entgrenzung.

Unabhängig davon, ob Literatur alleinig erzählt oder grundsätzlich beeinflussen möchte, verfolgt sie stets das Ziel, Grenzen zu überwinden, ungekannte Orte zu zeigen.

Insbesondere Andre Müller seniors neu erschienener, aber bereits 1975 fertig gestellter Roman „Am Rubikon“ setzt bereits im Titel den bekannten italienischen Fluss als Allegorie für eine paradox-riskante Gratwanderung zwischen Ideal und gewaltsamer Umsetzung desselben an. Dass es in dem Buch um Grenzen und Kontroverse geht, legt schon das Sujet des Jahres ’68 nahe. Es sind die Jahre des Krieges in Vietnam, des Generationenkonfliktes, der Grabenkämpfe zwischen Bürgertum und alternativen Gesellschaftsentwürfen. Humorvoll zeichnet der Autor die Irrungen und Wirrungen jener Generation in einer parabelhaften Satire nach. Bisweilen grotesk nähert er sich vermeintlichen „langhaarigen Weltverbesserer[n]“ an, welche im Verlauf der Geschichte den Wandel vom theoretisierenden, passiven Kommuneleben hin zur radikalisierten Revolutionsarmee durchlaufen; ganz im Zeichen der Genese der APO zur Gründung der RAF.

Allerdings ist die Dimension des Werkes weder monumental noch schwerelastig. Der zunächst harmlose Anfang setzt dort ein, wo man ihn nicht erwarten würde: In einem Nobelrestaurant wird der windige und immer in Geldnot befindliche Stefan Heyer Zeuge einer Straßenschlacht zwischen Studenten und der Polizei. Wie der Zufall es verlangt, tritt Heyer durch die Rettung zweier Studentinnen, wodurch es ihm gelingt, die Zeche zu prellen, vor der strikten Verfolgung durch die Staatsmacht mit der berüchtigten Berliner Kommune V in Kontakt. Aus Dank wird er aufgenommen und bemerkt, dass er sich den unstrukturiert-planlosen Zustand der von Utopien umnebelten und ideologisch verblendeten Bewohner zu nutzen machen kann.

Hier sieht der Überzeugungskünstler und Selbstinszenierer seine Chance, mittels manipulierender Rhetorik die idealistischen Gemüter zu instrumentalisieren. Denn „er hatte ein gutes Gespür für Sätze, die Wirkung machten“. Subtil beginnt er, die Kommunemitglieder seiner auratischen Führung unterzuordnen; baut Beziehungen auf; schläft mit den drei Kommunardinnen. Indem er die Einrichtung einer Raubdruckerei in der Kommune durchsetzt, gelingt es ihm sogar auf geschickte Art und Weise den Gewinn zu unterschlagen. Doch der Coup platzt, als die Bewohner aus ihrem Zustand der Verblendung erwachen. Selbst Heyers Traum vom Geld muss scheitern, weil selbst er bitter feststellen muss, dass jenes Geld unterschlagen worden ist.

Aufbruchstimmung entsteht und mündet in der Gewaltanwendung. Umsturz um jeden Preis wollen die Kommunarden, selbst vor Waffengewalt werden sie nicht zurückschrecken. Genau hier, am wohl zu kurz gehaltenen Ende, wird die vage Vermutung des Lesers zur Wirklichkeit: Umsturz der bestehenden Ordnung lautete schon einmal das Leitmotiv einer Revolution in Frankreich, deren Erbsünde ebenso im blutroten Revolutionstribunal mündete. Angesichts dieser Kehrtwende bleibt bei der pathetischen Kampfstilistik am Ende des Buches ein unwohles Gefühl beim Leser zurück. Was er erkennt, ist die Überschreitung jener Grenze, hinter der das Ideal nur noch bloße Fassade wird.

Gelungen stellt André Müller normative Absurditäten und moralische Rigiditäten gegenüber und demaskiert den Schein. Er tut das mit klarer und emphatischer Stimme. Sein Sprachgeist wirkt nie schwer. Mit einer humorvoll-sarkastischen Leichtigkeit wird eine historische Ära neu belebt und geradezu filmisch nachmontiert, in eindrucksvollen Einzelschnitten malt Müller das cineastische Panorama einer kontrovers und verbissen diskutierten Zeitenwende. Indem einzelne Szenen plastisch Themen des Jahres 1968 aufgreifen, gewinnen die ideologischen Konfrontationen eine ungekannte Realität. „Es geht darum, das Weltgewissen aufzurütteln“ sagen die einen, vom Autor manchmal herrlich grotesk charakterisierten Utopisten; wohingegen die anderen das rigorose Ausmerzen der Sündenbrut verfolgen.

Widersprüche und Scheinevidenzen offenbaren sich im dialektischen Grabenkampf zwischen Polizei und Aufrührerschaft, in deren Zentrum jeweils ein Absolutheitsanspruch auf Wahrheit erhoben wird. Insbesondere die Figur Biermanns in ihrem anfänglich zynischen Zerstörungstrieb gewinnt später Selbsterkenntnis und löst sich von der Menge der Unehrlichen und Selbstheuchler. Da Stefan Heyer nur an seinem eigenen Fortkommen interessiert ist, und selbst die Mitglieder der Kommune keine moralischen Engel sind, steht am Ende des Romans eine Erkenntnis fest: Niemand ist hier ehrlich. Und am wenigsten zu sich selbst. Gerade der Mensch als Sinnbild einer ganzen Generation steht mit all seinen Bestrebungen, Wünschen und insbesondere Widersprüchen im Vordergrund des Romans.

André Müller sen. bewertet nicht, sondern er wählt einen neuen, einzigartigen Weg der literarischen Komposition. Er stellt dar, beobachtet und spitzt zu. Ja, er verzerrt, um das Wahrhaftige zu zeigen. Und dabei verlässt er nie den Weg des Realismus, denn seine Personen handeln psychologisch und vor allem menschlich. Stereotypen sind fehl am Platz. Das verzwickte und reflektierte Schicksal des Einzelnen zeigt, dass er Teil eines Ganzen ist, einer Bewegung, die die Welt verändern wollte, die die bürgerliche Ordnung, den Konsum, das Amerika des Vietnamkrieges überwinden wollte; letztlich aber an den eigenen Widersprüchen und Dogmen scheitern musste. Grenzübertretung eben. Der Rubikon waghalsig überschritten. Voll Ironie weist Müller dem Leser einen freien, unbefangenen Reflektionsraum zur bitteren Ernsthaftigkeit der Geschichte zu, indem er der ohnehin satirischen Grenzlastigkeit eine neue Bedeutung verleiht.

Literaturangaben:
MÜLLER, ANDRÉ sen.: Am Rubikon. Verlag André Thiele, Mainz am Rhein 2008. 300 S., 14,90 €.

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