Von Leonhard Reul
20 Jahre nach dem Fall der Mauer gibt es mannigfaltige Buchprojekte, die sich diesem Thema annehmen. Ein ganz besonderes hat der Leipziger Koehler und Amelang Verlag verlegt. Es bietet Fotografien des Potsdamers Joachim Liebe, ein (Vor-) Wort zur Wende von Thomas Brussig sowie Gespräche von Martin Ahrends mit den 1989 Portraitierten 20 Jahre danach. Das Buch gliedert sich in drei Teile und bietet dem Leser drei gleichberechtigte Zugänge: Reflexion. Fotografie. Zeitzeugenschaft. Das fotografische Dokument macht den Hauptzugang aus und veranschaulicht, wie (es zu) Wende (-zeiten) aussah, macht diese einzigartige Stimmung nach-, bzw. wieder- erlebbar, zeigt aber im gegenüberstellenden Interviewteil auch die Spuren, die sich inzwischen in die Gesichter der Kämpfer von einst eingegraben haben.
Markant ist die mehrfache Rahmung: auf dem Umschlag vorne ziehen zwei Demonstranten mit dem Schriftzug „Keine Macht für niemand“ auf der Fahne heimwärts, hinten steht ein junger Bub vor der soldatischen Ehrenwache an der Neuen Wache Berlin und hält sich lachend die Bildzeitung um den Bauch, auf der da steht: „Es ist wahr geworden. Deutschland. Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.“ Schlägt man das Buch auf, so sieht man gleich Marx und Engels mit dem Palast der Republik im Hintergrund, unter sie gesprüht: „Wir sind unschuldig“ – ganz zum Schluss kommen die beiden nochmals, diesmal von hinten mit dem Graffitizug „Beim nächsten Mal wird alles besser.“
Allein diese vier klug gereihten Bilder zeigen uns wesentliche Entwicklungen im deutsch-deutschen Wendeprozess. 1989: Der Ruf nach Bürgermacht. Nach dem couragierten Fahnenschwingen hallt seitens einer gestaltungsoffenen Bürgerbewegung der Ruf „Wir sind das Volk“ (der DDR wohlgemerkt, nicht von ungefähr ist auf dem Eingangsfoto noch die Staatsflagge mit dabei). Am Ende der Bewegung 1990 steht dann: der lachende Kleine mit der Zeitung, die froh titelt „Wir sind ein Volk“ (das Deutsche, das der BRD-Führung anvertraute) geworden. Auch ist wieder eine regulierende Macht im Bild, hier: der Soldat, wieder ballt sich hinter dem Heranwachsenden einiges: nebst der deutschen Geschichte ein Bewaffneter. Das Marx-Engels- Denkmal mit dem (in allen Zeiten) oft gehörten Wort „Unschuldig“ (der zu Fall Gebrachten, einst Bestimmenden) – und der vagen Hoffnung auf ein besseres nächstes Mal (der fortlebenden, organisierten linken Jüngerschaft zugerufen?). Ein (stehen gebliebenes) Denkmal, das den Wandel zeigt: in den 90ern konnten wir die Unschuldslämmer (auch die der gescheiterten DDR-Abwicklung) nicht ertragen, die wie auch immer gearteten Systemverteidiger – und heute sind es diejenigen, die nur viel versprechen und sich des Vokabulars der linken Denker bedienen ohne nachhaltige Konzepte vorlegen zu können.
Lebensgefühle zur Wendezeit werden im Innenteil geliefert, Brussig schreibt nicht ohne Pathos über die intensive Zeit, in der eine Menge an Möglichkeiten offen standen, die nicht nur die Freude und das Wort „Wahnsinn“ mit sich brachten, sondern auch Verunsicherung der so fest im System oder einfach nur der Lebenswelt DDR Verwurzelten. Er lädt ein zu bedenken, wie das eigene Leben ohne Auf- und Umbruch weiter gegangen wäre, und zieht für sich und den Großteil seiner Altersgenossen das Fazit: selbst bei allen Fehlläufen nach 1989 war es eine gute (innere) Entwicklung.
Diesen Tenor der Begeisterung für 1989 teilen viele der dieser Tage wieder aufgefundenen, inzwischen interviewten Fotografierten. Wie sich die (politisch-gesellschaftlichen)Visionen der Couragierten entwickelten? Hier soll der Hinweis auf einige, die sich aus Enttäuschung, aus Scham nicht fürs Projekt zur Verfügung stellen wollten, nicht fehlen. Die, die bereit waren mit Ahrend zu reden, erzählten Ambivalentes. Der Fahnenschwinger vom Cover kam nie an in der neuen deutschen Welt, und lässt uns an seiner Abstiegsgeschichte teilhaben. Frau Mädler, die sich auf einem Transparent einst neue Männer für das Land wünschte, ist enttäuscht, dass der Ruf nach gesellschaftlicher Veränderung sich privatisierte: „…sie wollen mehr Luxus, mehr einkaufen, es (ging) ihnen gar nicht mehr wirklich um substanzielle Veränderungen. Die Wenigen, die es immer noch wollten, sind ja immer stärker an die Wand gedrückt worden.“ Ähnlich sieht es ein Arzt, der sich im neuen Vorort der Reichen von Potsdam zusehends unzugehörig fühlt: kein Platz mehr für alternative Leute, die einst das Stadtbild mitbestimmten. Aber auch „nur Miterlebende“ der Wende kommen zu Wort. Gerade das macht die Auswahl der Befragten so schön: nicht jeder war ein heroischer Freiheitskämpfer. Es gab genug Menschen, die gerade Pubertät oder Schwangerschaft durchliefen, und dadurch relativ apolitisch blieben, aber dennoch von den Umwälzungen betroffen waren, und in Einzelsituationen (für sie ungewohnten) Mut zeigen konnten. Am Ende kommen noch Gestalter zu Wort wie Günther Krause oder Christoph Singelnstein (RBB), deren Engagement mit großen privaten Opfern verbunden war. Auch hier haben die Buchmacher einen schönen Mantel gestaltet: Verlierer – Gewinner, dazwischen die nicht Unter- aber auch nicht völlig im neuen Dasein Aufgegangenen.
Den betrachtenden Leser erwartet ein volles Buch: Bilder aus der Potsdamer Provinz (wie viel glaubwürdiger wirkt so für den westdeutschen Leser die Tatsache einer Bewegung im ganzen Land: nicht nur in Leipzig oder Berlin sammelten und öffneten sich die DDR-Bewohner), aus dem brodelnden Berlin, oft mit tiefer Symbolik, seltener den politischen Figuren der Zeit zugetan, sondern vorwiegend dem Volk und dessen Aufbruchgefühl. Texte von damals wie heute mutigen Menschen, die deutlich zeigen, dass der Vereinigungsvorgang nicht die einzig erstrebte und somit Krönung, sondern nur eine mögliche Folge der friedlichen Revolution gewesen ist. Sehr positiv ist auch die Ausgewogenheit in Bild- und Textwahl, die echtes Reflektieren überhaupt erst ermöglicht und somit unserem geschichtlichen Bewusstsein letztlich nur zuträglich sein kann.
Literaturangabe:
LIEBE, JOACHIM: Wende. Wandel. Wiedersehen: 20 Jahre danach. Koehler & Amelang Verlag, Leipzig 2009. 128 S., 19,90 €.
Weblink: