Von Roland Böhm
Stuttgart (dpa) - Hafen Stuttgart, Mittelkai, 11.15 Uhr: Ganz langsam zieht die blaue Lok den „Orient Express“ an seine Endstation. Keinen Luxus, keine Dekadenz hat er an Bord, wie sein legendäres historisches Vorbild, sondern Theaterstücke und Musik in sechs verschiedenen Sprachen. Vor zwei Monaten am Bahnhof Ankara gestartet, sammelte er auf seiner Fahrt nach Stuttgart in elf Städten Inszenierungen renommierter Theater ein. Zu sehen ist das Spiegelbild
europäischer Theater- und Musikkultur von diesem Donnerstag an beim elftägigen Festival „Orient Express“ in einer offenen Industriehalle am Neckarbecken.
Rund 10.000 Zuschauer dürften die insgesamt 37 Aufführungen auch in Istanbul (Türkei), Bukarest und Temeswar (Rumänien), Novi Sad (Serbien), Zagreb (Kroatien) oder Ljubljana (Slowenien) gesehen haben, schätzt das Staatstheater Stuttgart. Es ist mit dem Türkischen Staatstheater Ankara der Hauptorganisator des ungewöhnlichen Projektes. Alle Produktionen – etwa vom Zagreber Theater der Jugend („Sieben Tage in Zagreb“), vom Rumänischen Nationaltheater („Occident Express“) oder vom Serbischen Nationaltheater („Als ob“) – werden erstmals zusammen in Stuttgart zu sehen sein. Bei diesen Produktionen und fünf Konzerten, die ebenfalls mitgebracht wurden, werden am Hafen noch einmal rund 8000 Zuschauer erwartet.
Dramaturg und Projektleiter Christian Holtzhauer ist der Stolz anzusehen, als der bunte Zug am Kai anrollt. Vieles hat er erlebt in den vergangenen Wochen, viele Erfahrungen hat er gemacht mit Theatern, Bahngesellschaften und Bahnhöfen. Es habe viel Kraft gekostet, „dass da nur Theater transportiert wird, keine gefährlichen Güter“. In Ankara war das Proben schwer, weil ab und an normale Züge über das Gleis rollen mussten, die nicht immer pünktlich kamen, berichtet Holtzhauer.
In Istanbul ließen sich „Heerscharen japanischer Touristen“ vor dem Zug fotografieren. „Offenbar hielten sie ihn für das historische Original“, sagt Holtzhauer. In Novi Sad waren die türkischen Regisseure Mustafa und Övül Avkiran von der Kulisse auf einem abgelegenen und zugewachsenen Bahngelände dermaßen begeistert, dass sie diese spontan in die Aufführung ihres Stücks „Ex-Press“ eingebunden haben. „Diesen Abend werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen“, sagt Övül Avkiran.
Und in Bukarest stand der Bühnenwaggon plötzlich falsch herum. „Und drehen Sie mal einen Güterwaggon – das ist schwerer als gedacht“, sagt Holtzhauer. „Anfangs kam mir das Projekt vor wie ein Traum“, erinnert sich Jean-Claude Berutti, Präsident der European Theatre Convention (ETC), die die Schirmherrschaft über den Theaterzug übernommen hatte. Er sei „sehr stolz“, dass aus diesem Traum Wirklichkeit geworden sei. „Der Zug spiegelt die Vielfalt der europäischen Kulturlandschaft wider.“
400 Plätze hat die provisorische Theaterarena in einer offenen Lagerhalle am Stuttgarter Hafen. Eröffnet wird das Festival am Donnerstag (19.30) mit der deutschen Produktion „80 Tage, 80 Nächte“ des Autorenteams Soeren Voima. Es beschreibt die abenteuerliche Reise eines in Rumänien produzierten Plagiat-Teddybären und eines Plüsch-Tigers – ebenfalls entlang der Route des Orient-Expresses.
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