Von Susanna Gilbert-Sättele
In ihrem Erstling „Was in zwei Koffer passt“ hat Veronika Peters jene zwölf Jahre beschrieben, die sie in einem Kloster verbrachte. In ihrem neuen Roman „An Paris hat niemand gedacht“ spielt Afrika eine große Rolle. Die Autorin hat auch dort lange gelebt, und wieder dürfte viel Autobiografisches in das Werk eingeflossen sein.
Marta ist die mittlere von drei Töchtern, die zusammen mit Greta, der Mutter, durch die Hölle gehen, die sich Familie nennt. Denn der Vater, nach außen ein erfolgreicher Architekt und Bauingenieur, ist ein Säufer, der seine Frauen brutal zusammenschlägt, sie beschimpft. Ein unberechenbarer Choleriker, der sie wie Leibeigene hält und dessen Herrschaft Frau und Kinder klein und unsichtbar werden lässt.
Die Familie lebt lange in Afrika und hier lernt Marta — das „Sandwichkind“ — dessen Fabeln, Mythen und Märchen kennen, in die sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Sophia flüchten kann, um dem Alptraum ihrer Realität wenigstens für eine kurze Zeit zu entfliehen. Diese Geschichten sind es, die für Marta auch die einzig schönen Erinnerungen an ihre Mutter sind, weil sie oft an ihrem Bett saß und vorlas. Marta ist es unerklärlich, warum diese sie und die Schwestern nicht vor den Grausamkeiten des Vaters beschützt, warum sie selbst sich so demütigen und verletzen lässt. Und so wird der Hass auf die Mutter allmählich genauso groß wie der auf den Vater. Entsetzt hört Greta, wie ihre Tochter abends im Bett Geschichten erfindet, in denen die Eltern immer eines grausamen Todes sterben.
Die Familie kehrt nach Deutschland zurück, und Marta gelingt es als noch Minderjähriger zu fliehen, bei einer Wohltäterin unterzukommen und sich allmählich ein normales Leben aufzubauen. Den Kontakt zu ihrer Familie hat sie fast ganz abgebrochen, nur so meint sie, die Gespenster der Vergangenheit bannen zu können.
Als der Vater stirbt, nutzen die Geschwister und Greta die Gelegenheit, wieder mit Marta Verbindung aufzunehmen. Widerwillig stimmt sie einem Treffen mit ihrer Mutter zu und erfährt, wie es dieser in den siebzehn Jahren ihrer Trennung ergangen ist. Obwohl die sich letztlich von Richard trennte, konnte sie sich niemals von dem Erlebten und den Selbstvorwürfen befreien. Sie weiß, dass sie schwach war, dass sie ihre Töchter im Stich gelassen hat, erklären kann sie es nicht.
So scheinbar kühl und distanziert, wie Peters Martas Schicksal schildert, so nüchtern beschreibt sie den weiteren Werdegang Gretas nach deren Scheidung: Sie stürzt sich in Arbeit, wird ein Shooting-Star in der Modewelt und bleibt doch immer eine Gefangene Richards, mag sie dem auch mit einer 60-Stunden-Woche und rastlosem Reisen zu entfliehen suchen.
Marta hört den Erzählungen ihrer Mutter zu, einige Missverständnisse werden aufgeklärt, aber für Vergebung ist es zu spät. Die drei Schwestern und Greta tragen Richard zusammen zu Grabe. Sophia, die Älteste, die sich sowohl mit der Mutter als auch dem Vater arrangieren konnte, bringt alle noch einmal in ihr ehemaliges Elternhaus: Es ist ihr Versuch, die Geister zu bannen, in dem sie sich ihnen stellt. Vielleicht ist dies ein Anfang für die vier Überlebenden. Marta fährt am Ende des Buches mit ihrer Mutter nach Paris: Dass dies noch einmal möglich sein könnte, hätte niemand gedacht.
Das Furchtbare, was diesen Frauen widerfuhr, braucht keine sprachlichen Verstärkungen. Peters kann sich der Wirkung ihrer schnörkellosen Schilderung gewiss sein. Der Kontrast zwischen den Motiven und Geschichten aus der afrikanischen Märchenwelt und den Erlebnissen der Mädchen hinter einer scheinbar bürgerlichen Fassade könnte nicht größer sein. Richard bleibt das gesichtslose Monster, das das Leben von vier Frauen auf immer geprägt hat. Peters unternimmt keinen Versuch, ihm ein Gesicht, eine Persönlichkeit zu geben und so womöglich im Leser Verständnis für diesen Mann zu wecken. Ihr liegen die Frauen am Herzen und deren Versuch, aus dem, was er von ihnen übrig ließ, ein eigenes Leben aufzubauen.
Literaturangabe:
PETERS, VERONIKA: An Paris hat niemand gedacht. Goldmann Verlag, München 2009. 272 S., 19,95 €.
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