„Die Reaktion auf den Betrug ist die Verachtung, die Reaktion auf die Verachtung ist der Haß, und der Haß führt zum Mord.“ Mit diesem treffenden Zitat von Giacomo Casanova leitet Guillermo Martínez seinen zweiten Kriminalroman „Der langsame Tod der Luciana B.“ ein. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung der mit dem Premio Planeta ausgezeichneten „Pythagoras-Morde“ widmet sich der in Buenos Aires lebende Autor nun dem Schicksal einer jungen Studentin, deren Anziehungskraft auf ihren Arbeitgeber dramatische Folgen hat.
Als der liebevolle Familienvater und Schriftsteller Kloster in einer Annonce nach einer Schreibkraft sucht, ahnt er nichts von den Auswirkungen. Den Sekretärinnenjob vergibt er an die bildhübsche und intelligente Biologiestudentin Luciana, die ihre Arbeit perfekt bewältigt. Dies ist die Grundlage für die Entwicklung einer gewissen Vertrautheit zwischen den Beiden, die einer Vater-Tochter-Beziehung ähnelt.
Alles ändert sich jedoch, als Luciana während der Abwesenheit ihres Arbeitgebers bei einem anderen namenlosen Autor aushilft. Kloster meint zu wissen, dass sie eine Affäre mit seinem Konkurrenten hatte, und innerhalb weniger Tage verliert sie für ihn ihre jugendliche Unschuld. Er wird regelrecht von dem Gedanken an ihre Nähe besessen und geht eines Tages mit seinem Versuch, sie zu küssen, einen Schritt zu weit. Luciana fasst den Entschluss, ihn wegen sexueller Belästigung anzuzeigen. Kloster verliert daraufhin seine Frau und seine über alles geliebte Tochter, die durch einen tragischen Unfall ums Leben kommt. Der Schriftsteller gibt, wie sie sich selbst auch, seiner ehemaligen Angestellten die Schuld daran, zahlt jedoch die in der Anzeige geforderte Summe.
Kurz darauf sterben Lucianas Freund, ihre Eltern und ihr großer Bruder unter merkwürdigen Umständen. Für die junge Frau steht fest, dass dies Klosters Werk sei, und sie beginnt sich um ihre restlichen Familienmitglieder zu sorgen, insbesondere um ihre kleine Schwester Valentina, auf die der Schriftsteller eine besondere Anziehungskraft auszuüben scheint. Luciana verfällt in eine Art Verfolgungswahn, glaubt diesem Albtraum nicht entkommen zu können. Im Gegensatz dazu steigt Kloster zum erfolgreichen Autor empor und scheint seinen Ruhm zu genießen. Diese Öffentlichkeitsnähe baut ein illusorisches Bild seiner selbst um ihn herum und macht ihn fast unnahbar. Wer würde ihn jetzt noch verdächtigen.
Der Roman schildert die Dreiecksgeschichte zweier konkurrierender Autoren und einer an ihren Schuldgefühlen zugrunde gehenden Frau. Der namenlose Autor, für den Luciana eine Aushilfe war, wird zum Ich-Erzähler und schlüpft in die Rolle des unparteiischen Ermittlers. Sein Mitgefühl mit Luciana ist ebenso groß wie die Bewunderung gegenüber Kloster.
Aber nicht allein die Ermittlung der Zusammenhänge der einzelnen Todesfälle steht im Zentrum. Auch die Erörterung des Zufalls im Allgemeinen klingt, geschickt verpackt, im Werk von Martínez an, der eigentlich promovierter Mathematiker ist. Ebenso wird die Problematik des Verfassens von Romanen an sich dargestellt und eine allgemeine Lösungsformel angeboten: „Man sollte nicht über das schreiben, was war, sondern über das, was gewesen sein könnte,“ – wie schon Aristoteles wusste.
Der Leser wird in einen Strudel gegensätzlicher Behauptungen hineingerissen und findet sich in einem raffinierten Spiel zwischen Fiktion und Wirklichkeit wieder. Martínez beschreibt bis zum Ende ein fesselndes Szenario aus immer wechselnden Blickwinkeln. Eine weitere Auffälligkeit ist, dass die Personen nie mit vollem Namen angeredet werden, was den Leser jedoch nicht daran hindert, sich ein exaktes Bild der Charaktere zu verschaffen, da Martínez mit filigraner Genauigkeit jeden Schritt erläutert. Seinen Weg nach Deutschland hat der Roman dank der Übersetzung von Angelica Ammer gefunden, die ihre Detailtreue bereits in Werken von Mario Vargas Llosa oder Sergio Pitol unter Beweis stellte.
„Der langsame Tod der Luciana B.“ ist ein Krimi mit spannungsgeladenen Passagen, die im Leser andere Erwartungen aufkommen lassen, als wir sie am Ende bestätigt finden. Teilweise lässt Guillermo Martínez Freiräume zum Weiterführen eigener Gedanken, wenngleich er versteckt eindeutige Hinweise gibt. Wir haben es mit einem Roman der Gegensätze zu tun, die sich anziehen, so zum Beispiel Liebe und Hass, Unschuld und Schuld, Leben und Tod. Am Ende kann jedoch nur eines von beiden bestehen.
Von Elisabeth Brand