HAMBURG (BLK) – Im Hoffmann und Campe Verlag ist im Februar 2008 Julia Friedrichs’ Sachbuch „Gestatten: Elite“ erschienen.
Klappentext: „Es gibt Menschen, sagte er, die sind oben; das sind Gewinner. Und Menschen, die sind unten; die Verlierer.“ Und wenn man sich weigert, das zu akzeptieren? „Dann“, sagte der Coach, „heißt es ganz schnell EDEKA: Ende der Karriere.“ „Deutschland braucht wieder Eliten“, heißt es von allen Seiten. Wer oder was aber ist heute Elite? Julia Friedrichs begibt sich auf eine Reise zu den angesehensten Eliteschmieden des Landes.
Julia Friedrichs ist fünfundzwanzig, als McKinsey ihr ein lukratives Job-Angebot unterbreitet – sie soll künftig zur Elite des Landes gehören. Was man sich darunter vorstellt, erlebt sie bei einem Edel-Assessment-Center – und ist geschockt. Doch das Wort „Elite“ lässt sie nicht mehr los. Sie schlägt den Job aus und recherchiert ein Jahr lang an Elite-Universitäten, Elite-Akademien, Elite-Internaten. Sie taucht ein in eine Welt, in der Menschen, die weniger als siebzig Stunden pro Woche arbeiten, „Minderleister“ heißen, in der zwanzigjährige Eliteanwärter Talkshow-Auftritte trainieren und Teenager Karriereberatungen buchen. – Ein kluges und kritisches, ein aufregendes Buch über die Zukunft unseres Landes.
Julia Friedrichs, geboren 1979, studierte Journalistik in Dortmund. Nach einem Volontariat beim Westdeutschen Rundfunk arbeitet sie nun als freie Autorin von Fernsehreportagen und Magazinbeiträgen, unter anderem für die WDR-Redaktionen „Monitor“, „Echtzeit“ und „Aktuelle Dokumentation“. Für eine Sozialreportage wurde sie 2007 mit dem Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und dem Ludwig-Erhard-Förderpreis ausgezeichnet. Julia Friedrichs lebt in Berlin und Köln. Dies ist ihr erstes Buch. (lea/wip)
Leseprobe:
© Hoffmann und Campe ©
ICH LERNE DIE ELITE KENNEN
Die Elite trat in einem griechischen Luxushotel in mein Leben. Sie hieß Mario und war knapp dreißig, also nur wenig älter als ich. Außer demselben Geburtsjahrzehnt hatten wir nicht viel gemeinsam. Mario kannte solche Abende. Er trank, redete, lachte – gleichzeitig. Ohne innezuhalten. Er war makellos, ohne Selbstzweifel, siegessicher. Ich saß in einem Karo-Rock, der ständig verrutschte, neben ihm. An den Füßen Stiefel, die ich mir geliehen hatte.
Während unseres Gesprächs drehte ich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. Wie immer, wenn ich nervös bin. Im Gegensatz zu ihm gehörte ich nicht hierher. Nicht in diese Fünf-Sterne-Idylle. Unterhalb unseres Tisches brannten Fackeln, junge Menschen saßen am Hotelpool, dahinter leuchtete der angestrahlte Poseidon-Tempel. Direkt darunter lag das Meer. Dieser Ort war einer der schönsten, die ich seit Langem gesehen hatte, und dennoch fühlte ich mich unwohl wie selten. Ich war in Griechenland, weil ich mich bei McKinsey, der weltgrößten Unternehmensberatung, beworben hatte.
McKinsey gehört zu den Mächtigen der neuen Wirtschaftswelt. Die Firma hatte im Dezember 2006 vierzehntausend Mitarbeiter weltweit, machte 600Millionen Euro Umsatz 10 allein in Deutschland. McKinsey baut Unternehmen um. Behörden. Staaten. Zehntausend junge Deutsche wollen jedes Jahr dazugehören und schicken ihre Bewerbung. Ein bis zwei Prozent davon bekommen einen Job. Das McKinsey-Auswahlverfahren gilt als das härteste der Welt. Und an diesem Auswahlverfahren nahm auch ich teil. Nicht weil ich bei McKinsey anfangen wollte, sondern zur Recherche. Ich arbeitete als freie Journalistin und war kurz davor, mein Studium zu beenden. Ich war fünfundzwanzig, also genau in dem Alter, das für McKinsey interessant ist.
Die Berater der Firma sind nicht nur mächtig, sondern auch diskret. Sie wickeln ihre Aufträge im Stillen ab, selbst wenn es darum geht, Arbeitsämter, Krankenhäuser und Universitäten umzubauen. Auf kritische Fragen antworten sie ungern. Deshalb wollte ich mir das Unternehmen von innen ansehen. Ich wollte wissen, wer diese Menschen sind, wie sie ausgewählt werden. Deshalb hatte ich mich beworben. Ich hatte nie gedacht, dass ich genommen würde. Und dann saß ich in diesem Hochglanzhotel am Meer. McKinsey hatte mich und hundertzwanzig andere Studenten aus Europa zu einer Segeltour eingeladen. Das Ganze war ein Edel-Assessment-Center. Unsere große Chance zum Einstieg in die Welt der Berater, sagten die meisten.
McKinsey zeigte uns in Griechenland das schöne Leben. Jeder wohnte in einem eigenen Bungalow mit Blick aufs Meer. Wir segelten zu siebt auf kleinen Jachten in der Ägäis. Wir feierten eine rauschende Party. McKinsey buchte einen DJ aus Athen und Barmänner, die mit Cocktailshakern jonglierten. Vier Tage lang lief vor unseren Augen ein Werbefilm für das schöne und coole Leben der Berater ab. Außerdem wurde uns in diesen vier Tagen in kleinen Dosen die McKinsey-Philosophie verabreicht. Uns wurde gesagt, wir seien brillant.
Wir seien die Besten. Die, die das Potenzial hätten, Europas neue Führungsgeneration zu werden. Wer es schaffe, zu ihnen zu gehören, sagte McKinsey, sei ein Gewinner. Elite. Mario war einer von vierzig Beratern, die mit uns im Hotel wohnten. Immer wieder setzten sie sich zu uns, um uns von der Welt der Mächtigen und Erfolgreichen zu berichten, die auf uns wartete. Mario war kein Date. McKinsey bezahlte ihn dafür, dass er mit mir Wein trank, dass er mir Heldengeschichten erzählte, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Er erklärte mir das Leben der Elite. Er habe gerade eine große europäische Fluglinie saniert, sagte er. Kosten reduziert, Leute entlassen. Die hätten sich ganz schön gesperrt.
Aber er hätte alle Widerstände gebrochen. Jetzt sei der Laden wieder fit. Und wieder trank er, lachte und gestikulierte. Er war so beschäftigt mit sich selbst, dass er erst sehr spät merkte, dass ich seine Geschichte nicht mochte. Dann verstand er und schaute mich an, als hätte er erkannt, dass ihm kein „High Potential“ gegenübersaß. „Es gibt Menschen“, sagte er, „die sind oben – das sind Gewinner. Und Menschen, die sind unten– die Verlierer. Pass auf“, riet er mir, „dass du im Leben zu den Gewinnern gehörst.“ Ich hätte eine von ihnen werden können. Zurück aus Griechenland, lud mich McKinsey zu einem Auswahltag am Berliner Kurfürstendamm ein. Ich rechnete mich durch Tests und löste Case Studies, wie die Berater ihre Beispielfälle nennen. Ich musste mir sagen lassen, dass ich gern bluffe und manchmal etwas aggressiv sei. Obwohl es ja nur eine Recherche war, entwickelte ich plötzlich den Ehrgeiz, diesen Auswahltest um jeden Preis zu schaffen.
Am Ende hielt ich einen Vertrag in der Hand. McKinsey bot mir 67.000Euro Einstiegsgehalt und einen Dienstwagen – meine Eintrittskarte in die Welt der Elite. Als ich das schicke Büro verließ, das Papier, das so viel Geld bedeuten könnte, in der Hand, war ich drauf und dran zuzusagen, mich vom Journalismus zu verabschieden und das zu werden, was McKinsey unter Elite versteht. Ich zögerte und zauderte, aber ich sagte Nein. Ich verließ McKinsey, ohne eine von ihnen geworden zu sein. „Gerade noch rechtzeitig“, sagten meine Freunde. Aber zu spät, um Mario vergessen zu können. Aus dem griechischen Luxushotel kehrte ich in meine Wohngemeinschaft nach Berlin zurück. Hier hatte sich nichts verändert. Links der Plattenladen, rechts der Wohnwagen, in dem man Hamburger kaufen kann, dazwischen, im Hinterhof, in einem roten Backsteinbau, indem vor einem Jahrhundert Tortenböden hergestellt wurden, unsere WG.
Seit drei Jahren lebe ich hier. Zusammen mit den vier anderen. Theo hat die Wohnung vor fast zehn Jahren entdeckt. Er hat sich Ende der Achtziger in der Kommunikationsbranche selbstständig gemacht. Gesundheitliche Probleme warfen ihn dann aus der Bahn. Seit einiger Zeit versucht er, wieder Fuß zu fassen. Vorne links, direkt neben der Eingangstür, lebt Jan. Vielleicht ist er Mitte zwanzig, vielleicht schon dreißig. So genau weiß das niemand. Jan feiert seinen Geburtstag nicht. Er sagt, es sei kein Festtag. Die Erde sei auch ohne ihn schon zu voll. Jan hat Mathematik studiert, sogar in Singapur. Jetzt ist er Tierrechtler und politischer Aktivist. Mal organisiert er eine Kampagne gegen die Privatisierung der Bahn, mal plant er eine Aktion gegen den Klimawandel oder Genmais. Gegenüber von Theos Tür wohnt Hanna.
Sie ist blond, klug und ziemlich ehrgeizig. Hanna will Juristin werden. Spezialistin für Völkerrecht. Sie träumt davon, eines Tages als Delegierte des Roten Kreuzes im Kongo für die Menschenrechte einzutreten. Dafür braucht sie – die Welt der Juristen ist eine eigentümliche – unbedingt neun Punkte im Examen. Weil das im ersten Anlauf nicht geklappt hat, lernt sie jetzt alles noch einmal. Seit einem Jahr. Und hinten links wohnt Tom. Mein Freund. Auch er hat mal Jura studiert. Bis ihm nach vier Jahren einfiel, dass das die falsche Wahl war, und er sich für ein Journalistikstudium entschied. Er arbeitete im Bundestag, dann beim Radio.
Jetzt ist er an der Uni, allerdings in Hamburg. Drei Tage pro Woche verlässt er uns und wohnt in einer anderen WG. Mit zwei Mädels in St. Georg, direkt hinterm Hauptbahnhof. Als ich von meiner Absage erzählte, atmeten die anderen auf. Für sie wäre eine Unterschrift so etwas wie mein Einverständnis zu einer feindlichen Übernahme gewesen. Tom wollte sogar schon besorgniserregende Charakterveränderungen an mir festgestellt haben. Ich sei so betont cool geworden, sagte er. Würde mich sogar bemühen, tiefer zu sprechen. Als diese Gefahr gebannt war, wendete sich die WG wieder ernsteren Problemen zu. Wir hatten Mäuse, seit Wochen schon.
Wieder einmal diskutierten wir übermögliche Lösungen: Genickschlag oder Lebendfalle? Wieder einmal konnten sich Pragmatiker und Tierfreunde nicht einigen.
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Literaturangaben:
FRIEDRICHS, JULIA: Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008. 256 S., 17,95 €.
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