Von Thomas Strünkelnberg
Eigentlich sind Täter und Opfer im Krimi leicht zu unterscheiden, sollte man meinen. Doch die Krimis von Minette Walters sind nicht nach diesem klaren Schema gestrickt. Nur am Rande interessiert sie das eigentliche Verbrechen, sehr stark aber die menschlichen Abgründe, die zum Verbrechen führen. Was tut der Leser, wenn ein Opfer grausamer Gewalt sich auch als Mordverdächtiger geradezu anbietet? Sympathisch und als Identifikationsfigur geeignet kann man einen solchen Mensch nur mit Mühe finden. Und doch gelingt Walters mit „Der Schatten des Chamäleons“ ein spannender Thriller mit überraschenden Wendungen und faszinierenden Einblicken in die Psyche der Soldaten des Irak-Kriegs.
Schon in „Des Teufels Werk“ spielte der Irak-Krieg eine Rolle, im neuen Roman der Autorin stehen die verheerenden Folgen des Krieges für den jungen Leutnant Charles Acland ganz im Mittelpunkt. Einfühlsam beschreibt sie die Schmerzen und Seelenqualen des bei einem Bombenanschlag im Irak verwundeten und grausam entstellten Soldaten, findet Worte für die Verwandlung des eigentlich freundlichen Menschen zum aggressiven Finsterling. Wutausbrüche und Alpträume quälen ihn nach seiner schweren Kopfverletzung, seinem Therapeuten vertraut er sich nicht an, auch seinen Eltern nicht, seine Ex-Verlobte bedroht er. Eignete sich dieser Mann nicht wunderbar als Verbrecher?
Ganz so einfach ist es denn doch nicht. Zwar gerät er in London nach einer Reihe von Morden unter Verdacht, wird auch verhaftet, nachdem er einen arabisch aussehenden Mann verprügelt hat und seine Ex-Verlobte Jen behauptet, er habe sie vor seiner Abreise in den Irak vergewaltigt. Aber er findet Fürsprecher wie die resolute Ärztin Jackson, die ihm auf ganz eigene Weise klarmacht, dass er sich seiner Vergangenheit wohl stellen muss.
Denn bald taucht eine Frage auf: Begann Charles’ Wandlung möglicherweise schon vor seinem Eintreffen im Irak und dem Anschlag? Ist diesem jungen Mann nicht vielmehr schon lange auf schlimme Weise mitgespielt worden? Und was bedeutet das für den Mordfall? Geschickt legt die Autorin immer neue Fährten und erhöht damit die Spannung.
Nur steckt sie in dem Dilemma, dass die Kriminalgeschichte bei aller Spannung und trotz der überraschenden Lösung der Lebensgeschichte des vom Krieg gezeichneten und zerstörten Mannes eigentlich nicht gewachsen ist. In eher sachlichen und unaufdringlichen Worten, die das Grauen umso realer machen, schildert sie die Psychose und Folgen des Krieges für den jungen Mann – und seine Zeit im Krankenhaus. Da kann der Krimi im Vergleich nur abfallen.
Auffallend an den Romanen der britischen Autorin ist, dass sie sich nie auf ein einen Helden festlegt. Statt dessen Eigenarten nach allen Regeln der Kunst auszuschlachten, was spannend sein kann – Mankells Polizeibeamter Kurt Wallander, Sayers’ spleeniger Edelmann-Detektiv Lord Peter Wimsey –, erfindet sie ihr Personal immer neu und das eindrucksvoll realistisch. Ein Vorteil für den Leser, der sich möglicherweise leichter mit weniger sympathischen Figuren anfreunden kann – im nächsten Buch tauchen sie nicht mehr auf.
Literaturangaben:
WALTERS, MINETTE: Der Schatten des Chamäleons. Roman. Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg-Ciletti. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2008. 446 S., 19,95 €.
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