Von Wilfried Mommert
Es war einmal...eine Zeit, als die West-Berliner von „Wessis“ sprachen und damit die Westdeutschen im Bundesgebiet meinten und jeder Autofahrer auf den Transitstrecken zwischen West (Deutschland) und West (Berlin) an den DDR-Grenzkontrollstellen gefragt wurde, ob er nicht zufällig „Waffen, Munition und Funkgeräte“ bei sich habe. Und selbst innerhalb Berlins patrouillierten zwischen der von den Westalliierten besetzten Stadthälfte und der sowjetisch kontrollierten „Hauptstadt der DDR“ „Grepos“ mit Knobelbechern und Maschinenpistolen auf dem Bahnhof Friedrichstraße.
Aber als dann vor 20 Jahren die Mauer fiel, waren nicht nur die Tage der DDR gezählt. Auch West-Berlin, das „Schaufenster des Westens“ und „Tor zur Freiheit“, wie es im Westen hieß, oder die im SED-Jargon sogenannte „Selbstständige politische Einheit Westberlin“, sollte nach 1989 bald zum Mythos der deutsch-deutschen Geschichte gehören.
Es ist also an der Zeit, die Geschichte dieses merkwürdigen Ortes, der nicht aus eigener Kraft überlebensfähig war und daher aus Bonn hoch subventioniert werden musste, der eine Art „drittes Deutschland“ zwischen Bundesrepublik („Westdeutschland!, wie die „Insulaner“sagten) und der DDR war, aufzuschreiben - von der Luftbrücke 1948 über den Mauerbau 1961 bis zum Mauerfall 1989 und der Vereinigung 1990. Wer weiß denn heute noch, dass es ein Ort war, der als Stadtoberhäupter Männer wie den Münchner Hans-Jochen Vogel und den späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker hatte, weil alle Welt bei Berlin immer nur an Willy Brandt oder Ernst Reuter denkt.
Der 1943 in Wien geborene Publizist Wilfried Rott, langjähriger Mitarbeiter beim früheren Sender Freies Berlin (SFB), dem heutigen Rundfunk Berlin-Brandenburg, hat nun nach Angaben des Verlages „die erste Gesamtdarstellung der ebenso dramatischen wie bizarren Geschichte“ West-Berlins vorgelegt. Es ist eine echte Fleißarbeit mit viel Hintergrundwissen und -material geworden, die aber leider über weite Strecken nicht allzu lebendig, sondern eher referierend ausgebreitet wird. Der Gegenstand hätte mehr Farbe vertragen.
Allerdings gelingen Rott teilweise ziemlich treffende Charakterisierungen und Persönlichkeitsbilder der West-Berliner Protagonisten in Politik, „Filz“, Kultur und Gesellschaft. Auch die Beobachtungen vom Transitalltag zwischen West-Berlin und dem Bundesgebiet, also zwischen Drewitz und Marienborn oder Hirschberg, lassen den aufmerksamen Zeitzeugen erkennen: „Selbst in dem Gefühl, mit dem Auto immer in der falschen Schlange zu stehen, waren sich alle gleich.“ Davon wissen natürlich die Nachgeborenen nichts mehr, von denen manche heute laut Rott schon wieder die Frage stellen: „Wie ist man über das Staatsgebiet der DDR nach West-Berlin gekommen? Durch Tunnel?“
„Der Mauerfall war für das langsam vermuffte West-Berlin ein Segen, als ob man das Fenster aufstößt und frische Luft reinlässt“, meinte rückblickend der Musikmanager Conny Konzack, der lange Jahre auch die „Ärzte“ managte. Der „historische Sonderfall West-Berlin“ war nach den Erinnerungen des langjährigen Intendanten der (West-) Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, auch so etwas wie eine „groß dimensionierte soziologische Versuchsanordnung“ mit Menschen, die „im ständigen Bewusstsein vom Gehen auf Eis“ lebten, begleitet vom ohrenbetäubenden Knallen der sowjetischen Düsenjäger beim Durchbrechen der Schallmauer, die damit auf ihre Art gegen Tagungen von Bundestagsfraktionen oder gar der Bundesversammlung in West- Berlin protestierten.
Aber es entstand in dieser eingeschlossenen Halbstadt („Frontstadt“ wie die SED sie nannte) auch ein eigenes kulturelles Klima, das Künstler und Abenteurer und gerade junge Menschen (in West-Berlin gab es Dank alliiertem Besatzungsstatuts für Deutsche keinen Wehrdienst) aus „Westdeutschland“ und dem Ausland anzog, so dass die Stadt nicht von ungefähr in den 60er Jahren auch zu einem Zentrum der Studentenproteste wurde. Und in Kreuzberg und anderswo blühte eine Subkultur und eine „kleine Hochkultur“ mit Malern wie Martin Kippenberger und den „Jungen Wilden“ um Rainer Fetting und Salomé sowie seinen „Malerpoeten“ um Kurt Mühlenhaupt, Günter Bruno Fuchs, Wolfdietrich Schnurre, Oskar Pastior, Robert Wolfgang Schnell und Günter Grass, die ins das gesamte Bundesgebiet ausstrahlte, inklusive einer Anarcho-Punk-Szene. Es entstanden die für West-Berlin so typischen alternativen Milieus vor allem in Kreuzberg, allerdings nicht nur in der Kulturszene, sondern auch in der Hausbesetzerbewegung.
Genau die aber hatte - für viele gut erhaltene Altbauten noch rechtzeitig - die Finger in die Wunden einer „Baumafia“ gelegt mit Abschreibungsobjekten, die etwa am Kurfürstendamm („Kudamm-Eck“ oder „Kudamm-Karree“), wie Rott schreibt, „in unübersehbarer Hässlichkeit als Dokument der Raffgier hochgezogen“ wurden. Gleichzeitig sollten ganze Altbau-Stadtviertel oder Straßenzüge abgerissen werden, die heute nur Dank der - teilweise aber auch gewalttätigen – Hausbesetzer-Demonstranten saniert im historischen Gewand wieder ein Schmuckstück der vom Krieg schwer getroffenen Hauptstadt sind.
Ein allseits umjubelter Abriss ging dann symbolisch in der Nacht vom 9. November 1989 über die Bühne der Geschichte. Nach Blockade und Mauerbau wurde damit zum dritten Mal nach 1945 in Berlin Weltgeschichte geschrieben - aber Blockade und Mauerbau waren mit einem Schlag Geschichte, wie Rott betont. „Fast stillschweigend verabschiedete sich West-Berlin nach dem Fall der Mauer aus der Geschichte.“ Die Ironie der Geschichte will es aber, dass die meisten Berlin-Besucher noch heute „die Mauer“ oder doch wenigstens ihre Reste sehen wollen, was nicht wenige Hauptstädter ziemlich nervt. Wie es im geschichtlichen „Biotop“ und eingemauerten West-Berlin aber im Alltag aussah, das können sie jetzt bei Wilfried Rott nachlesen.
Literaturangabe:
ROTT, WILFRIED: Die Insel - Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990. C.H.Beck, München 2009. 478 S., 24,90 €.
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