Von Ulrich Fischer
GLADBECK (BLK) – „Westwärts“ rückt den Lyriker Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) in den Mittelpunkt. Der Schriftsteller aus Vechta im Oldenburgischen gilt Freunden und Kennern als verkanntes Genie, doch sein Durchbruch lässt auch Jahre nach seinem frühen Tod noch auf sich warten. Schorsch Kamerun und Carl Oesterhelt haben zu Texten aus Brinkmanns Gedichtbänden „Westwärts 1&2“ Musik komponiert, die Ruhrtriennale hat für die Aufführung die Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck zur Verfügung gestellt und 150 ortsansässige Darsteller haben mitgespielt: von Dieter Adamczyck bis Horst Zühlke. Nach der Uraufführung am Samstagabend (20. September) wollte der Beifall nicht enden.
Die Gattungsbezeichnung klingt ungewöhnlich: „Ein begehbarer Ausnahmezustand“. Die Zuschauer müssen sich zu Vorstellungsbeginn durch eine Schleuse zwängen, sie ist niedrig und eng, fast erinnert sie an einen Geburtskanal. Jeder muss sich ducken, bevor er in ein System von Gängen eintritt, das von Plastik umgeben ist, die Umwelt scheint milchigweiß getrübt. Die Zuschauer spazieren vorbei an einer Küche, einem trostlosen Sozialraum, einer schmucklosen Wäscherei und landen im Zentrum der Maschinenhalle. Dort haben wohl die Feuerwehr und das Technische Hilfswerk Notbetten, ein Lager aufgeschlagen. Die Musik von Kamerun und Oesterhelt stimmt fast depressiv. Dazu spricht Sandra Hüller Texte von Brinkmann.
Die Musik macht es schwer, die Worte zu verstehen – offenbar erscheint es Schorsch Kamerun, der auch Regie führt, wichtiger, die Stimmung zu erfassen. Bald wird klar, dass der Zuschauer sich, dank des aufwendigen und scharfsinnigen Raumkonzepts von Constanze Kümmel, in der Lage des Dichters befindet: Er fühlt sich isoliert vom wirklichen Leben, nimmt seine Umwelt nur verzerrt wahr und leidet unter Orientierungsschwierigkeiten – Gründe für seine Depression.
Wenn der Betrachter am Ende seines Spaziergangs auf der Tribüne landet und Platz nimmt, überblickt er das Arrangement. Von der Welt der Menschen, die scheinbar ungeordnet nebeneinander herarbeiten, ist die der Künstler abgeschieden: Sandra Hüller und ihr fünfköpfiges Orchester residieren unter einen Plastik-Kuppel. Das Publikum, noch einmal abgesondert in einer dritten Sphäre auf der Tribüne, wird durch Kameras und vier Bildschirme mit Ausschnitten vom Geschehen versorgt.
Die Stimmung kommt rüber: Melancholie, ja, tiefe ausweglos scheinende Depression – aber die Gedichte rauschen zu rasch vorbei. Am Ende geht Sandra Hüller, die die Poeme rezitiert, zu den wirklichen Menschen, die sie aber kaum verstehen, ja, nicht einmal wirklich wahrnehmen, spricht von ihren Eindrücken. Die Schauspielerin verkörpert jetzt Brinkmanns lyrisches Ich und klagt, es gebe keine tragfähige Brücke zwischen Künstlern und den „normalen“ Menschen.
Die Maschinenhalle unterstreicht auf der einen Seite das Nüchterne des Arbeitsalltags, der den Dichter so stark befremdet; andererseits aber zeigt sie auch, dass sie Bestandteil eines sinnvollen ökonomischen Systems war – das der Poet nicht durchschaute. So wird in diesem Industriedenkmal die zentrale Schwäche von Brinkmanns Versen deutlich: Er verkennt die Zwänge im Leben seiner Mitmenschen.
Aber auch die Stärke von Brinkmanns Gedichten wird ansatzweise deutlich: Er ist deprimiert, weil so viele Zeitgenossen das Leben, das so wundervoll sein könnte, verzetteln in einem Alltag, der grau, sinnlos und grundsätzlich verfehlt erscheint.
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