Von Roland H. Wiegenstein
Die Schweizer Literaturkritikerin Eva Haldimann war im westlichen Teil Europas unter den Ersten, die bereits 1977, da gab es die Grenzen zwischen den beiden „Blöcken“ noch, Imre Kertész in der Neuen Zürcher Zeitung eine ausführliche, lobende Rezension von „Roman eines Schicksallosen“ gewidmet hat. Zwar hatte der Deutsche Akademische Austauschdienst in den siebziger und achtziger Jahren viele ungarische Schriftsteller zu einem Stipendienaufenthalt in Berlin eingeladen, Kertész jedoch war nicht darunter. So musste ihm die Ermutigung aus dem Westen besonders wichtig sein. Haldimann, ungarischer Herkunft, hatte schon seit Jahren das aus der ungarischen Literatur besprochen, was ihr wichtig erschien. Nun also Kertész. Aus dem ersten Kontakt ergab sich ein Briefwechsel, den sie, was die Briefe des Autors betraf, freigab, ihre eigenen gingen verloren. Kertész` Briefe umfassen den Zeitraum bis 2002, als der Autor den Nobelpreis erhielt und den Kontakt mit Haldimann aufgrund seiner zahlreichen Verpflichtungen dem Telefon anvertraute.
Im Wesentlichen sind es Briefe aus den neunziger Jahren, die zeigen, wie der Autor sich mit den antisemitischen und faschistischen Tendenzen in Ungarn auseinandersetzte. Zwar erschienen seine Bücher nach und nach alle in Budapest, aber gerade dies war es, was seine Gegner, Schriftsteller wie er, wenn schon weit geringeren Rangs, auf den Plan rief. Kertész wehrte sich, er trat aus dem Schriftstellerverband aus, nachdem einer von dessen Vorständen, Sandor Csoóri, in einem Artikel in der Zeitschrift „Hitel“ eine deutlich antisemitische Polemik gegen die Juden in Ungarn veröffentlicht hatte. Und er ließ nicht nach. Je berühmter er wurde, desto entschiedener erhob er seine Stimme. Eva Haldimann hat er die Kämpfe und Verzweiflungen des „Kosmopoliten“, als den er sich selbst bezeichnete, genau beschrieben. Auch den unsäglichen Vorfall, den der Leiter des „Haus Ungarn“ in Berlin auslöste, als er Kertész und andere als unwürdige Repräsentanten der Ungarischen Nation zu verunglimpfen versuchte (ohne dass er doch von der Regierung vor Ende seiner Amtszeit abgelöst worden wäre.)
Kertész Empfindlichkeit solchen offenen oder versteckten Angriffen gegenüber ist höchst wach. Er wollte nicht in seiner Heimat als „Jude“ – also für die Nationalisten als nicht-ungarisch abgestempelt werden. Haldimann gegenüber, die die literarische Situation in seinem Land besser als sonst wer im Westen kannte, brauchte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Mit bitterer Ironie weist er immer wieder auf die antisemitischen Tendenzen hin, die ihm das Leben schwer machen. 1992 sinniert er: „…manchmal höre ich hier den Budapester Rundfunk und starre entsetzt vor mich hin, ganze Winterstunden lang. Ich weiß nicht, ob man nicht am Ende aus Ungarn flüchten muss“. Nach 2001 hat er es getan, einen zweiten (!) Wohnsitz in Berlin bezogen. Wie klug das war, ist nach den Wahlen von 2010 deutlich geworden. Die Ungarn haben der Partei ihre Stimme gegeben, die den übersteigerten Nationalismus (zu dem der Antisemitismus konstitutiv gehört) zum Programm erhoben hat.
Kertész Briefe sind das bittere Zeugnis eines Autors, der sich dieser Welle entgegenstemmte, so lange es ging. Sie zeigen auch, wie langsam die Eingemeindung eines europäischen Autors in den Kosmos eines aufgeklärten, friedlichen, freien Europa vor sich ging, wie viel Grund er hat, sich zu beklagen. Er tut es klug, besonnen und zuweilen verzweifelt. Man hätte Grund, seinen politischen Gedanken mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich ist Ungarn ein Stück Europas.
Literaturangabe:
KERTÉSZ, IMRE: Briefe an Eva Haldimann. Rowohlt Verlag, Hamburg 2009. 141 S., 16,90 €.
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