„Wir sind unsere Geheimnisse, und wenn es mit rechten Dingen zugeht, nehmen wir sie dorthin mit, wo niemand ihnen nahe kommt“ – so räsonniert einer der Ich-Erzähler in Cees Nootebooms neuem Buch mit dem Titel „Nachts kommen die Füchse“. Diese Warnung hat einem anderen Ich-Erzähler (keiner ist mit dem Autor identisch, aber alle haben etwas von ihm) seine Großmutter mitgegeben, er erinnert sich daran in einer Nacht mitten in der afrikanischen Wüste.
Nooteboom hat seit seinen Anfängen in den fünfziger Jahren („Der verliebte Gefangene“, erst spät auch hierzulande erschienen) keine Kurzgeschichten mehr geschrieben - er brauchte einige Seiten mehr, auch wenn seine Romane und Erzählungen, abgesehen von einem Roman („Allerseelen“), nicht sonderlich lang sind. Das „Geheimnis“ der acht neuen Geschichten ist stets dasselbe: der Tod. Oder genauer: Es sind die Toten. Die, die auf Fotos noch zu sehen sind, „vergilbten, zerrissenen Fotos“, obwohl sie seit vierzig, dreißig oder zwanzig Jahren nicht mehr auf dieser Erde existieren.
Aber: „Nicht nur, dass ein Foto einen Tote abbilden konnte, es konnte einem auch eine ungültig gewordene Version der eigenen Person auftischen, einen nicht mehr erkennbaren Langhaarigen, der einst so perfekt in das damalige Bild gepasst hatte, das diesem Foto das schal gewordene Aroma einer endgültig vergangenen Zeit gab. Wie erstaunlich, dass alles unverändert blieb!“ Unverändert ist die Riva degli Schiavoni in Venedig geblieben, wo der Ich-Erzähler (wieder ein anderer) dem kurzen Abenteuer mit einer blutjungen Amerikanerin nachsinnt, die er dort vor vierzig Jahren getroffen und wieder verloren hat, mit der er Briefe wechselte, die er zwanzig Jahre später in Kalifornien besuchte und von deren Tod er wenig später erfuhr.
Lauter kurze, episodenhafte Begegnungen in der ersten oder der dritten Person erzählt: etwa die mit einem Mann, der an einem Gewitterabend an einer südlichen Küste vom Blitz erschlagen wird, oder die mit einem holländischen Häusermakler (und Vizekonsul seiner Nation) in Ligurien, der als Trinker von fröhlicher Melancholie unvergesslich bleibt, oder mit einer Witwe, die auf ihren Tod wartet, während sie sich vom Kellner dessen Geschichte erzählen lässt und dazu Gin trinkt. Oder mit einer Kinderbuchautorin, die ihren Mann zu verabscheuen beginnt, als der drei kleine Schildkröten über die Mauer wirft, aus Rache betrügt sie ihn mit dem Postboten. Er geht am nächsten Tag weg, stirbt - und sie vergisst ihn langsam. „Denn es handelt sich, dachte sie, um drei Augenblicke. Den des Abschieds, den seines Todes und diesen langen, jetzigen Augenblick, in dem sie begonnen hatte, ihn zu vergessen, in dem er zu einem Schemen geworden war, sein wirklicher Tod.“
Nooteboom evoziert die junge, geheimnisvolle Paula, die einer ganzen Clique junger Leute den Kopf verdreht hatte, ehe sie nach einem Abend im Casino von Deauville plötzlich verschwand und wenig später bei einem Hotelbrand umkam. Diese Clique hat einige Ähnlichkeiten mit dem Aussteiger-Personal seines frühen Romans „Der Ritter ist gestorben“, auch einer der Helden des Romans „Rituale“ taucht darin als eine Art Wiedergänger auf – und im früheren Buch findet sich schon ein kurzer Dialog in Englisch: „Death?“ „Yes.“ „Hm …” „You really think that’s a subject: Death? You like it? Hah, is that it? Kind of decadent poetry?” Da bleibt der junge Dichter sprachlos. Der alte ist es nicht. Er fügt der Geschichte „Paula“ eine zweite hinzu, in der die Tote spricht. Von sich erzählt und dem Ort, wo sie jetzt ist, in einem Nichts, wo es keine Körper mehr gibt, keine Umgebung, keinen Laut – nur noch die verblassende Erinnerung an ihn, an die Nacht in der Wüste, an eine fatale Liebe – und bald gar nichts mehr: Dann sei sie wirklich tot, meint sie.
Nur in einer, der letzten, der Erzählungen begegnet uns eine einsame Frau, die bei Sturm stets auf eine Klippe geht: Erst irgendwann einmal wird sie sich hinunterstürzen: ein Aufschub nur. Neben Figuren, die man schon zu kennen glaubt, kehren Nootebooms Landschaften wieder, rund um das Mittelmeer, sie bleiben (wenn schon oft durch menschliche Gier verändert) und er beschreibt sie in Bildern von fast schmerzhafter Schönheit: Erinnerungen tun weh, in ihnen ist das Schöne als das Schreckliche des Vergangenen „gegenwärtig“.
Wir begegnen seinen alten Freunden wieder: Aristoteles und Platon, Montaigne und Chateaubriand, Hegel (wohl kaum ein „Freund“, aber gleichwohl ein etwas misstrauisch beäugter Weggefährte), Flaubert, Stendhal, sogar Balzac. Der gelehrte Autor mag sie so wenig missen wie die Fotos, die immer wieder auftauchen, diese auf Papier gebannten Zeugen, dass da einmal etwas war. In einem doppelten Salto hat er (zusammen mit seiner Frau Simone Sassen) in „Tumbas“ die Gräber der Toten auf Fotos festgehalten. Denn das ist es, was die Toten wollen: Man soll sich an sie erinnern, bis sie sich vollends in Schemen auflösen, die allenfalls noch Historiker exhumieren. Für ihn, den Augenmenschen, der unermüdlich Gegenwärtiges wahrnimmt, ist es doch in dem Augenblick, in dem er das Gesehene, Erfahrene aufschreibt, schon Vergangenheit, die er mit allen Methoden des Metiers bannt, ins Leben zurückwirft.
Das ist seine Art, dem Tod Paroli zu bieten, ihm die Schau zu stehlen. Mag auch der Ritter gestorben sein, mögen auch der wilde Holländer Heinz, Paula und Wintrop schon lange tot sein – so lange er sie in poetischen Geschichten beschwört, verschwinden sie nicht im Schattenreich. Dies ist die Botschaft: Tod ist Vergessen, Leben Erinnerung und Sterben ein Augenblick, ein Hiatus, der nicht so bald enden soll. Es ist eine tröstliche Botschaft, auch wenn Nooteboom, der Wissende, sie ironisch bricht: Allzu sehr sollen wir uns nicht auf seine Geheimnisse verlassen. Doch für die Zeit der Lektüre sind seine Figuren, allesamt Reisende, Flüchtige (und Flüchtlinge), bei uns in Fotos aus Worten vorhanden. So können sie lange bleiben.
Literaturangabe:
NOOTEBOOM, CEES: Nachts kommen die Füchse. Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 154 S., 19,80 €.
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