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„Die Zeitwaage“ von Lutz Seiler

Geschichten über Isolation, Sprachlosigkeit und Gewalt

© Die Berliner Literaturkritik, 15.03.10

Von Johannes von der Gathen

Die Sehnsucht nach der Ferne hat sie bis an die Pazifikküste geführt. Am kalifornischen Strand merkt das Ehepaar jedoch, dass seine Ehe vorbei ist, nur noch ein Trugbild, so wie die Seifenblasen, die aus einem Automaten am Pier kommen und in die sich ihre kleine Tochter Luzie verguckt.

Wie fragile Luftbilder muten etliche der Erzählungen von Lutz Seiler an, die der bislang vor allem als Lyriker und Essayist bekannte Autor in dem Band „Die Zeitwaage“ versammelt. Der 1963 im thüringischen Gera geborene Bachmann-Preisträger von 2007 schreibt eine eindringliche Prosa, bedächtig und subtil. Das Debüt dieses außergewöhnlichen Erzählers wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse 2010 nominiert.

Dabei geht es in diesen keineswegs harmlosen Erzählungen zumeist um bittere Erfahrungen wie Isolation, Sprachlosigkeit und Gewalt in einem versunkenen Ostdeutschland, dessen Innenstädte und Fabrikhallen ähnlich marode und verwüstet waren wie die Seelen und Gefühle vieler Menschen. Eine Kindheit und Jugend im „Chemiedreieck“ im Schatten der giftspeienden Schlote von Bitterfeld kommt ans Tageslicht, es geht um quälend lange Schultage, das endlose Warten auf den ersten Kuss, die Angst vor einem tyrannischen Hausmeister, der wie ein böser Geist im Keller der Schule hockt oder die Knüppel, mit denen die halbstarken Jungs die Kastanienbäume traktieren.

Seiler erzählt aus der Perspektive des Heranwachsenden vom „Stotterer“, einem belächelten Außenseiter und schrulligen Automechaniker, oder er beschwört „Die Schuldamsel“ in einem fulminanten Text, den man so schnell nicht wieder vergisst.

In der surrealen Eisenbahn-Geschichte „Turksib“, für die Seiler mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, rast ein altmodischen Zug durchs fernste Sibirien, der Protagonist begegnet einem Heizer – ein Arbeiter, der wie ein Relikt aus Sowjetzeiten wirkt, und zugleich an die Erzählung „Der Heizer“ von Franz Kafka erinnert. Beiden Figuren widerfuhr Unrecht, aber vielleicht war der rußgeschwärzte Bilderbuch-Riese in Seilers Text nur ein Fantasiegebilde aus Rauch und Hitze, das sich im „Wasserdampf des Samowars“ auflöste.

Von solchen Gespensterfiguren wimmelt es in diesem Band, es gibt eine weitere Anspielung auf Kafka und dessen Erzähl-Kleinod „Auf der Galerie“, und immer wieder sind es die Werkzeuge und Apparaturen, denen das Interesse des gelernten Baufacharbeiters Seiler gilt: Maulschlüssel und Abstandsmesser, Geigerzähler, Handsirene und die ominöse Zeitwaage, hinter der sich eine Tragödie aus Berliner Wendezeiten verbirgt.

In den Dingen scheint die Zeit aufbewahrt zu sein wie in Bernstein. An einigen wenigen Stellen tut der Lyriker Seiler des Guten jedoch zu viel. „Mischbrotscheiben treiben wie viel zu kleine Rettungsbojen im Meer seines Ungenügens“, solche Wendungen sind überorchestriert, kommen aber glücklicherweise selten vor.

 

Literaturangaben: SEILER, LUTZ: Die Zeitwaage. Suhrkamp, Berlin 2009. 285 S. 22,90 €.

 

 

Weblinks: Suhrkamp

 

 


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