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Wie hast du’s mit der Religion?

Die Anthologie „Die Gretchenfrage“

© Die Berliner Literaturkritik, 13.05.08

 

WIEN (BLK) – Der Sammelband „Die Gretchenfrage: Nun sag’, wie hast du’ s mit der Religion?“ ist im März 2008 im Wiener Zsolnay Verlag erschienen.

Klappentext: Gretchens berühmte Frage an Faust zeigte in der von Goethe verfassten Tragödie scharf den Konflikt zwischen Gottesgläubigkeit und einer aufgeklärten Haltung, die in der Religion kaum mehr sehen kann als eine unspezifische Stimmung. Für die moderne Welt schien diese Frage schon erledigt, doch sie ist als drängende politische Herausforderung in die Gegenwart zurückgekehrt. Wie ist zwischen Religiosität, Dogmatismus, Fanatismus und Fundamentalismus zu unterscheiden? Welche Rolle spielen die alten Konflikte zwischen den Religionen für das Zusammenleben in der globalisierten Welt? Diesen und ähnlichen Fragen stellten sich beim elften Philosophicum in Lech renommierte Philosophen, Religions- und Kulturwissenschaftler, Theologen und Physiker.

Beiträge von Ednan Aslan, Gabriele Sorgo, Peter Strasser, Bruno Binggeli, Rainer Forst, Friedrich Wilhelm Graf, Gudrun Krämer, Robert Menasse, Jan Philipp Reemtsma, Winfried Schröder, Martin Seel.

Herausgegeben von Konrad Paul Liessmann. (fri/lea)

 

Leseprobe:

© Zsolnay Verlag ©

Gretchens Frage und warum Faust

darauf keine Antwort wusste

 

Marthens Garten

Margarete, Faust

 

Margarete Versprich mir, Heinrich!

Faust Was ich kann!

Margarete

Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?

Du bist ein herzlich guter Mann,

Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.

Faust

Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;

Für meine Lieben ließ’ ich Leib und Blut,

Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

Margarete Das ist nicht recht, man muß dran glauben!

Faust Muß man?

Margarete

Ach! wenn ich etwas auf dich könnte!

Du ehrst auch nicht die heil’gen Sakramente.

Faust Ich ehre sie.

Margarete

Doch ohne Verlangen.

Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen.

Glaubst du an Gott?

Faust

Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub’ an Gott?

Magst Priester oder Weise fragen,

Und ihre Antwort scheint nur Spott

Über den Frager zu sein.

Margarete So glaubst du nicht?

Faust

Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht!

Wer darf ihn nennen?

Und wer bekennen:

Ich glaub’ ihn.

Wer empfinden,

Und sich unterwinden

Zu sagen: ich glaub’ ihn nicht?

Der Allumfasser,

Der Allerhalter,

Faßt und erhält er nicht

Dich, mich, sich selbst?

Wölbt sich der Himmel nicht da droben?

Liegt die Erde nicht hier unten fest?

Und steigen freundlich blickend

Ewige Sterne nicht herauf?

Schau’ ich nicht Aug’ in Auge dir,

Und drängt nicht alles

Nach Haupt und Herzen dir,

Und webt in ewigem Geheimnis

Unsichtbar sichtbar neben dir?

Erfüll davon dein Herz, so groß es ist,

Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,

Nenn es dann, wie du willst,

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!

Ich habe keinen Namen

Dafür! Gefühl ist alles;

Name ist Schall und Rauch,

Umnebelnd Himmelsglut.

Margarete

Das ist alles recht schön und gut;

Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,

Nur mit ein bißchen andern Worten.

Faust Es sagen’s allerorten

Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,

Jedes in seiner Sprache;

Warum nicht ich in der meinen?

Margarete

Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen,

Steht aber doch immer schief darum;

Denn du hast kein Christentum.1

„Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion.“ Mit dieser Frage quält Goethes Gretchen ihren Geliebten, und Faust weiß darauf keine rechte Antwort. Seine unmittelbare Reaktion ist dann auch typisch für eine moderne Befindlichkeit: „Laß das, mein Kind!“ Über Religion spricht man nicht. Sie ist eine Privatsache, so sehr, dass sie nicht einmal die Intimität zwischen zwei Menschen tangieren sollte. Vorab indiziert diese Szene allerdings einen nicht zu unterschätzenden Wandel im Umgang mit der Religion. Noch wenige Jahrzehnte bevor Goethe den ersten Entwurf der Faust-Tragödie schrieb, wäre die Frage eines jungen Menschen an seinen potenziellen Liebespartner eine andere gewesen: katholisch oder lutherisch? Die Aufklärung hat schon ihre Spuren hinterlassen, nicht mehr die Frage nach dem rechten Glauben dominiert den Diskurs, sondern die nach der Stellung des Menschen zum Phänomen des Religiösen überhaupt.

Fausts zweite Reaktion weist dann der Religion einen Platz zu, der ihr jede Verbindlichkeit abspricht: „Du fühlst, ich bin dir gut; / Für meine Lieben ließ’ ich Leib und Blut, / Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.“ Faust ist natürlich tolerant. Jeder soll glauben und im Glauben fühlen, wie er kann und will. Aber er will keine Auseinandersetzung mehr über den rechten Glauben. Und er beansprucht für sich selbst, ethischen Maximen wie dem Liebesgebot oder der Verpflichtung zur Solidarität auch ohne Religion folgen zu können. Für die Moral, so dürfen wir Faust interpretieren, stellt die Religion eine mögliche, aber keine notwendige Bedingung dar. Und insofern sich eine Religion als moralische Instanz sieht, wird sie mit dieser Einschränkung leben müssen. Gute Menschen gibt es überall, böse auch. Die mittlerweile wieder gern gestellte Frage, ob religiöse Menschen in einem ethischen Sinn bessere Menschen als areligiöse seien, entbehrt übrigens nicht einer gewissen Komik, da diese Frage nur sinnvoll gestellt werden kann, wenn ein nicht-religiös fundiertes Kriterium zur Beurteilung moralischer Qualitäten vorausgesetzt wird. Im Übrigen verlaufen sich solche Fragen in einem Zirkel, der etwa folgendermaßen beschrieben werden kann: Menschen, die bestimmte moralische Vorstellungen haben und denen es gelingt, danach zu leben, sind gemessen an diesen Vorstellungen besser als Menschen, die diese Vorstellungen nicht haben oder denen es nicht gelingt, danach zu leben. Das Weltethos, das man mitunter in allen Religionen entdeckt, erweist sich dann auch als Projektion dieser säkularen Wertvorstellungen in die Sittenlehren der Religionen, bei der alle transzendenten Bezüge und alle Gebote, die diesem säkularen Moralverständnis widersprechen, ausgeklammert werden müssen.

Erst Fausts Ausweichmanöver treiben Gretchen dazu, die für sie entscheidende Frage zu stellen: „Glaubst du an Gott?“ Und Faust tut alles, um auch diese, gerade diese Frage nicht beantworten zu müssen. Im Grunde will er die Frage vom Tisch haben, in Dingen der Religion herrscht keine Auskunftspflicht. Der Glaube – und Sören Kierkegaard wird wenige Jahrzehnte später dies bis in die letzte Konsequenz durchbuchstabieren – ist letztlich nicht kommunizierbar. Jedes Bekenntnis ist ein Lippenbekenntnis, der Glaube selbst ist stumm. Zu dieser Radikalität ist Faust allerdings noch nicht fähig. Er umkreist die Frage und beginnt, wie Kant es vielleicht genannt hätte, zu vernünfteln: Zuerst stellt er die Legitimität der Frage nach Gott zur Disposition – „Wer darf ihn nennen? / Und wer bekennen: / Ich glaub’ Ihn“ – dann flüchtet er in die Beschwörung von Empfindungen: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles.“

Gefühl ist alles! Es ist, als ob Faust hier schon jene romantische, ästhetisch gewendete Religiosität antizipierte, wie sie Jahre später Friedrich Schleiermacher formulieren wird: Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche. Die gegenwärtig gern gebrauchte Formel von den „religiösen Gefühlen“ und ihrer Verletzungsanfälligkeit könnte auch als prekäre Schwundstufe dieser romantischen Konzeption gedeutet werden. Geblieben ist das Gefühl, ohne jeden Geschmack dafür, was sich in ihm ausdrückt und was ihm zusteht. Faust repräsentiert aber auch eine moderne, pantheistisch angehauchte Vernunftreligion, mit der wohl auch Goethe selbst kokettiert hat. Dass dabei alles das, was er sagt, nur Ausflucht ist, nicht ernst gemeint, tut dem keinen Abbruch: Dieser Unernst ist integrales Moment einer Haltung, die man mit einem moderneren Wort „Spiritualität“ nennen könnte.

Faust zitiert einige, nicht alle Spielarten solch eines spirituellen Bewusstseins: kein persönlicher Gott mehr, keine Konfession, keine Glaubensgemeinschaft, keine Kirche, keine damit verbundene sittliche Weltordnung – aber das Gefühl einer Allheit und Allverbundenheit, emotionale Übereinstimmung mit dem Weltganzen, das Absolute als Chiffre für die Liebe. Große Worte, ein Hymnus, wie die Goethe- Adepten beteuern, und dahinter ein eindeutiges Ziel: das vierzehnjährige Gretchen zu verführen. Dieses jedoch bleibt hartnäckig. Die Kindfrau lässt sich in ihrer Naivität nicht von den gewundenen Gedankenfiguren des gelehrten Doktors irritieren. Und dies nicht nur, weil sie spürt, dass Faust schwindelt – woran glaubt eigentlich, wer mit dem Teufel einen Bund eingeht? – , sondern auch, weil sie intuitiv Fausts Wortschwall als Ausweichmanöver interpretiert.

Fausts Dilemma lässt sich vielleicht so beschreiben: Er kann nicht mehr glauben und ist noch kein kämpferischer Atheist. Seinen Entwurf einer pantheistisch gefärbten Gefühlsreligion, seine schwammige Spiritualität kann Gretchen nicht überzeugen. Ihr Befund ist klar: „Du hast kein Christentum.“ Diese Einsicht wird sie nicht davon abhalten, Fausts Drängen nachzugeben. Ihr eigenes sinnliches Verlangen ist größer als ihr Glaube. Dafür wird sie büßen müssen, und von Goethe erst in einem zweiten Anlauf halbherzig erlöst werden.

So weit, so gut. Gretchens Frage zeigt sich heute in mehreren Facetten. Als Testfrage für angehende Liebesbeziehungen hat sie – außer in orthodoxen Kreisen – ihre Bedeutung wohl einigermaßen verloren. Die Frage danach, wie man es mit der neuesten Popgruppe habe, wird wahrscheinlich bei aufkeimenden Geschlechtspartnerschaften öfter gestellt werden. Die generelle Frage nach Gott, seiner Funktion und seiner Existenz erfreut sich hingegen zunehmender Beliebtheit. Die Debatten, ob aus der Organisation des Universums oder aus dem Prinzip der Evolution auf die Spuren eines Schöpfers zu schließen sei oder ob aus eben diesen Befunden die Nichtexistenz Gottes bewiesen werden könne, muten nach zweihundert Jahren Aufklärung und Religionskritik zwar einigermaßen anachronistisch an, entbehren aber nicht eines gewissen Reizes. Vernunftargumente für oder gegen die Existenz Gottes tragen zwar nichts zur Klärung dieser Frage bei, aber diese fungiert als Wetzstein, an dem sich die Vernunft selbst schärfen kann.

An Gottesbeweisen und ihren Widerlegungen können wir, sind sie nur anspruchsvoll genug, die Eleganz und Scharfsinnigkeit bewundern, die von der Vernunft aufgeboten werden, um dem Herr zu werden, was alle Vernunft übersteigen soll. Immanuel Kant hat versucht zu zeigen, dass alle Gottesbeweise prinzipiell ebenso scheitern müssen wie alle Versuche, die das Gegenteil im Sinne haben. Was an den gegenwärtigen Debatten über „Intelligent Design“ auf der einen Seite und über die Möglichkeiten, aus den Erkenntnissen von Kosmologie, Evolutionsbiologie und Genetik Gott endgültig den Garaus zu machen auf der anderen Seite einigermaßen verwundert, ist ein Argumentationsniveau, das den von Immanuel Kant in diesen Fragen vorgelegten Reflexionsstandard kaum je erreicht. So viel zum Fortschritt im Denken.

Wie hast du’s mit der Religion? Die postkantianische Aufklärung des 19. Jahrhunderts gab Gretchens Frage eine Stoßrichtung, die sowohl die individuellen Glaubensformen als auch die Frage nach der Existenz Gottes systematisch ausklammerte und Religion als soziales und psychogenetisches System interpretierte, das in seiner Funktionalität begriffen werden sollte. Das Pathos dieser Versuche resultiert aus der Überzeugung, dass die Religion ihre transzendente Dimension, ihren Heiligenschein, wie Marx schrieb, verlieren werde, wenn erst einmal klar sei, dass es sich dabei um ein durch und durch irdisches Unternehmen handle, weil alle Götter letztlich im doppelten Sinn Projektionen des Menschen seien: Es ist der Mensch, der diese Projektionen vornimmt, und es ist der Mensch, der sich dabei selbst ins Unendliche vergrößert. Diese, im Wesentlichen von Ludwig Feuerbach entwickelte Denkfigur, initiierte eine Kette religionskritischer Konzepte, die, mit unterschiedlichen Akzenten, von Marx über Nietzsche bis zu Sigmund Freud reicht.

Ludwig Feuerbach entlarvte die Religion als die Projektion der unerfüllten Sehnsüchte des Menschen und Gott als sein eigentliches Wesen. Religionskritik und mit ihr Ideologiekritik wird von nun an stets nur diesen Gestus haben: den des hemmungslosen und lustvollen Entlarvens. Und die magische Formel dafür wird sein: Etwas ist nichts anderes als. Damit war eine der bis heute wirksamsten Reduktionsformeln der Moderne und der Aufklärung gefunden. Religion ist nach der Entfaltung dieser Kritik nichts anderes als die inverse Projektion der Sorgen und Nöte des Menschen auf die Leinwand einer imaginären Ewigkeit. Und deshalb konnte Marx 1843 stellvertretend für eine Generation die Kritik der Religion für beendigt erklären. Feuerbachs Das Wesen des Christentums schien als philosophische Überbietung der Religion selbst unüberbietbar. Damit war alles gesagt, Religion endlich auf den Punkt gebracht: „Die Religion ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“

Marx deutete mit diesen berühmten Sätzen die Religion als verkehrte Repräsentation der Wirklichkeit im Bewusstsein. All das, was in der Wirklichkeit fehlt, findet sich in der Welt der Religion. Die Religion spiegelt nicht Wirkliches, sondern Fehlendes. Während die Vampire sich nicht im optischen Spiegel sehen können, zeigt der Spiegel des religiösen Bewusstseins das, was in der Wirklichkeit nicht zu sehen ist. Die Defizite der Wirklichkeit erscheinen als Mehrwert der Religion. Die Menschen müssen nicht zur Religion verführt werden, sondern Religion, Ideologie, ja Bewusstsein überhaupt sind in ihrer jeweiligen Form und Gestalt Resultat und Produkt der Defizite, Negativa und Differenzen des wirklichen Lebens – in der Weise aber notwendig und unhintergehbar. Religion ist kompensatorisches Bewusstsein.

Marx diagnostiziert die Religion als Opiat und schließt daraus auf einen Zustand, der der Betäubung anscheinend bedarf, und fordert eine Therapie, deren Resultat ein Zustand sein soll, der des Opiats entbehren kann. Zentral für Marx ist die Dechiffrierung der Gestalten des Bewusstseins als Arrangement von Symptomen, ohne das aber die Erkenntnis der Krankheit, das heißt: der Wirklichkeit in ihrem Elend, ebenso wenig möglich wäre wie das Leben mit dieser Krankheit, das heißt: das Leben in diesem Elend.

Ähnlich wie Marx dem Kompensationsgedanken verpflichtet, wenngleich in der Rhetorik nicht annähernd mehr so emphatisch, verfährt die Religionsanalyse von Sigmund Freud. In seiner zentralen religionskritischen Schrift Die Zukunft einer Illusion aus dem Jahre 1927 beschreibt Freud die Funktion der Religion als eine Aufgabe, die den Menschen mit den Grausamkeiten der Natur und des Schicksals versöhnen soll, wobei die ursprüngliche Omnipotenz der Götter im Laufe schon der frühen Kulturen zugunsten anderer Erklärungs- und Deutungsmodalitäten beschnitten wird. Die religiösen Vorstellungen, so Freud, sind „nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke dieser Wünsche.“ Und Freud kommt zu dem Schluss: „Religionen sind sämtlich Illusionen, unbeweisbar, niemand darf gezwungen werden, sie für wahr zu halten, an sie zu glauben. Einige von ihnen sind so unwahrscheinlich, so sehr im Widerspruch zu allem, was wir mühselig über die Realität der Welt erfahren haben, dass man sie – mit entsprechender Berücksichtigung der psychologischen Unterschiede – den Wahnideen vergleichen kann. Über den Realitätswert der meisten von ihnen kann man nicht urteilen. So wie sie unbeweisbar sind, sind sie auch unwiderlegbar.“

Diese Religionskritik hat in der europäischen Moderne ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Sie stellt gleichsam den theoretischen Rahmen für jene Entzauberung der Welt dar, die für den Soziologen Max Weber zu den entscheidenden Signaturen der Moderne zählt. Die Soziologie hat allerdings auch gezeigt, dass dieser Prozess der Desillusionierung widersprüchlich ist. Niklas Luhmann zumindest hat in seinen systemtheoretischen Beschreibungen der Religion die Idee verabschiedet, dass die Aufklärung über die gesellschaftliche Funktion der Religion schon imstande wäre, diese Funktion zu substituieren. Die gesellschaftliche Funktion von Religionen liegt nach Luhmann darin, eine Form von Sinn zu generieren, die nicht leicht von anderen sozialen Systemen übernommen werden kann. Gott ist eine nur schwer überbietbare „Kontingenzformel“, die es erlaubt, die Welt und ihre Endlichkeit überhaupt erst in den Blick zu bekommen, in dem man sie von einer Nichtwelt, von einer Transzendenz, von einem außerhalb stehenden Beobachter unterscheidet.4 Natürlich sind diese Konzepte Schöpfungen des Menschen – damit sie aber ihre soziale Funktion erfüllen können, muss dieses Wissen zurückgehalten werden. Religionssoziologie, so Luhmann, lebt davon, dass es Religionen gibt, die nicht an die Religionssoziologie glauben. Prekär wird es allerdings nach Luhmann, wenn die religiösen Kontingenzbewältigungsformeln mit moralischen Ansprüchen und sozialen Systemen kurzgeschlossen werden. Dies führt zu jenen Entlastungen, die politisch als Enthemmungen bemerkbar werden: Dann wird aus Glaubensgründen nach Herzenslust gefoltert und gemordet. Damit allerdings ist der dritte und entscheidende Punkt berührt, der Gretchens Frage heute akzentuiert: Wie haben wir es mit der Religion als Ausdruck und Moment einer Kultur, einer sozialen und moralischen Lebensform, die durchaus in Konflikt mit jenen Rechtsordnungen gelangen kann, die in differenzierten Gesellschaften die moralisch-religiösen Diskurse aufgefangen und abgelöst haben sollten. Die tolerante Maxime des Preußenkönigs Friedrich II., nach der jeder nach seiner Fasson selig werden sollte, ist wörtlich zu nehmen: Wie jemand glaubt, zu seiner ewigen Seligkeit kommen zu können, soll ihm überlassen bleiben. Der Satz lautet jedoch nicht, jeder soll nach seiner Fasson leben. Die Seligkeitspraktiken haben deshalb nur als Ausdruck einer individuellen Entscheidung im privaten Raum und dann im Jenseits ihren Platz.

Eine säkulare individualisierte Gesellschaft hat kein Problem damit, unzählige individualisierte Glaubensvorstellungen tolerant zu behandeln; sie kann auch noch davon abgeleitete Lebenskonzepte akzeptieren, sofern diese nicht mit den allgemeinen Rechtsnormen kollidieren. Sie wird aber prinzipiell in Schwierigkeiten geraten, wenn sich Religionsgemeinschaften als Teilgesellschaften verstehen, die ihre eigenen Rechtsvorstellungen generieren, egal wie diese aussehen. Moderne Gesellschaften sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie eine säkulare Verrechtlichung des Lebens vorantreiben bei gleichzeitiger Entschärfung der Frage nach dem rechten Glauben. Die gegenwärtig stark forcierte erneute Engführung von moralischen Konzepten und religiösen Überzeugungen, von Religion, Kultur, Identität und Lebensform stellt so gesehen einen zivilisatorischen Rückschritt dar. Programmatisch für moderne Gesellschaften war die Entkoppelung von Moral, Recht und Religion. Wer nun eine Umkehrbewegung, aus welchen Motiven auch immer, propagiert oder verteidigt, sollte zumindest sagen können, worin für die Menschen der Vorteil dieser Abwendung von der Moderne eigentlich liegen soll.

Gretchens Frage entfaltet ihre aktuellste und politisch brisanteste Gestalt deshalb im doppelten Plural: Wie haben wir es mit den Religionen. Das Problem sind weder die individuellen Bekenntnisse traditioneller Gläubigkeit noch die Sinnmärkte und Spiritualitätsbasare, die als Segmente der emotionalisierten Freizeit- und psychogenen Wellnessindustrie die eine oder andere Komplexität reduzieren; das Problem sind auch nicht religiös motivierte Lebensentwürfe, solange sie der Souveränität und Verantwortlichkeiten des Einzelnen unterliegen und mit den sonstigen akzeptierten Rechtsnormen nicht konfligieren. Wer freiwillig in ein Kloster geht und sich dem Zölibat unterwirft, wird wissen, was er tut. Kommentare entrüsteter Agnostiker, die den Zölibat in der katholischen Kirche abschaffen wollen, sind deshalb ziemlich überflüssig. Das Problem liegt in der Reetablierung eines Konzeptes von Religion, das es erlaubt, diese als Gemeinschaft zu denken, die nicht nur diese Souveränität des Einzelnen bezweifelt und so weit als möglich beschneidet, sondern auch für ihre Lebensform und die dazugehörigen Wertvorstellungen einen Sonderstatus gegenüber den Rechtsnormen der Gesellschaft, in die sie eingebettet ist, beansprucht. Über die soziale und kulturelle Bedeutung, die religiöse Vorstellungen, Rituale, Werte und Praktiken auch für eine säkulare Gesellschaft haben können, kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Das Gebot der Toleranz verlangt aber nicht, jene religiösen Haltungen zu akzeptieren oder gar zu privilegieren, die die Vorstellung von der individuellen Freiheit und Würde des Menschen restringieren oder überhaupt in Frage stellen.

Faust wusste auf Gretchens Frage keine rechte Antwort. Den Glauben wollte er ihr nicht nehmen und aufklären wollte er sie so oder so nicht. Das erinnert an die Haltung, die man heute gerne als tolerant empfindet. Faust ließ es schließlich bleiben und machte sich ans Werk der Verführung. Das aber ging nur mit der Hilfe des Teufels. Fraglich, ob das die beste Lösung war. Aber was wäre die Alternative gewesen?

© Zsolnay ©

Literaturangaben:
LIESSMAN, KONRAD PAUL (Hrsg.): Die Gretchenfrage: Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion? Zsolnay, Wien 2008. 256 S., 21,50 €.

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