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Wiedergeboren

Die frühen Tagebücher einer Intellektuellen

© Die Berliner Literaturkritik, 17.03.10

München (BLK) – Im März 2010 sind im Hanser Verlag die Tagebücher von Susan Sontag mit dem Titel „Wiedergeboren“ erschienen.

Klappentext: Bereits mit fünfzehn vertiefte sie sich in Rilke und Gide, mit siebzehn heiratete sie ihren Professor: Susan Sontag war eine ungewöhnliche Frau. Ihr Lebenshunger und ihre unstillbare Wissbegierde führten die junge Intellektuelle von Kalifornien nach Chicago, später nach Paris und New York. Die frühen Tagebuchnotizen der Kunstbegeisterten bieten unvermutete Einblicke in ihre widersprüchliche Persönlichkeit: Das Private – ihre Ehekrise, ihre Liebschaften und ihre Homosexualität – sind der Anlass für weitreichende, tiefsinnige Betrachtungen. Ihr intimes Selbstporträt ist das Zeugnis eines einzigartigen intellektuellen Werdegangs und gleichzeitig ein Zeitdokument ersten Rang.

Susan Sontag, 1933 in New York geboren, war Schriftstellerin, Kritikerin und Regisseurin. Sie erhielt u.a. den Jerusalem Book Prize 2001, den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt „Das Leiden anderer betrachten“ (2003), „Worauf es ankommt“ (2005) und „Zur gleichen Zeit“ (Aufsätze und Reden, 2008). Susan Sontag starb 2004 in New York. Über ihr letztes Lebensjahr berichtet ihr Sohn David Rieff in „Tod einer Untröstlichen“ (2009).

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

 29. 7. 48

… Und was bedeutet es, jung an Jahren zu sein und plötzlich der Qual, der Intensität des Lebens gewahr zu werden?

Es bedeutet, eines Tages das Echo derer, die nicht folgen, zu vernehmen, aus dem Dschungel hinauszustolpern und in einen Abgrund zu stürzen:

Es bedeutet sodann, für die Fehler der Rebellierenden blind zu sein, sich mit jeder Faser schmerzlich nach allem zu sehnen, was dem Kindheitsdasein entgegengesetzt ist. Es bedeutet Ungestüm, wilde Begeisterung, die unmittelbar in Selbstzerfleischung umschlägt. Es bedeutet, sich der eigenen Anmaßung quälend bewusst zu sein …

Es bedeutet, sich bei jedem Versprecher erniedrigt zu fühlen, schlaflose Nächte, in denen man die Unterhaltungen von morgen einübt und sich wegen der gestrigen martert … den gesenkten Kopf in die Hände gestützt … „mein Gott, mein Gott“ … (rein rhetorisch natürlich, denn es gibt keinen Gott). Es bedeutet, sich innerlich von seiner Familie und all seinen Kindheitsidolen zurückzuziehen … Es bedeutet Lügen …

und Groll und dann Hass …

Es bedeutet, zynisch zu werden, jedes Wort, jede Handlung zu überprüfen. („Ach, ganz und gar aufrichtig zu sein!“) Das erbarmungslose, bittere Infragestellen von Beweggründen …

 

24. 10. 56

Philosophieren oder Kulturbewahrerin sein? Ich habe immer nur Letzteres für mich in Anspruch genommen …

Das Denken hat keine natürlichen Grenzen …

Philosophie ist die Topologie des Denkens …

Projekt: Ein Schema oder Diagramm philosophischer Schritte (taktischer Züge) erstellen. Die Philosophie als Spiel. (Schach lernen!) Dass Paul Morphy [amerikanischer Schachmeister des 19. Jhs.] gut Schach spielen konnte, hilft mir kaum, gut zu spielen. (Ein bisschen schon.) Und so wird immer wieder aufs Neue philosophiert.

In der Philosophie beißt sich die Katze in den Schwanz: Denken über das Denken² – zwei Bedeutungen von „denken“. Denken ist Philosophie; Denken = die Wissenschaften.

Aber architektonische oder ästhetische (oder logische – ist das Gleiche!) Erwägungen können nicht allein maßgeblich dafür sein, warum man ein philosophisches System einem anderen vorzieht. Sonst gäbe es nämlich keine wahre + falsche Metaphysik.

„Gestatten Sie mir, Ihre Argumentation zu durchleuchten…“

„Gestatten Sie mir, Ihr System zu enträtseln …“

„Bitte entschuldigen Sie mich, während ich Ihre Motive ausgrabe…“

In der Philosophie sondiert man vorsichtig die Grenzen des Denkens – oder man wirft sich gegen sie – oder man zieht sie näher zu sich heran – oder man bespuckt sie – oder man malt schöne Friese um sie herum.

Was ist das Denken ohne Worte? Es geht gar nicht. Das Denken strebt unbeirrbar danach, selbst Sprache zu sein (siehe [John] Hughlings Jacksons [britischer Neurologe] These einer „inneren Sprache“)

Worte sind die Währung des Denkens, aber sie sind nicht der Barwert des Denkens. (Dies wider die linguistischen Philosophen in Oxford)

©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

SONTAG, SUSAN: Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963. Hanser Verlag, München 2010. 384 S., 24,90 €.

 

Weblink: Hanser Verlag


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