Von Volker Strebel
Seit der politischen Wende von 1989/1990 sind in der tschechischen Literatur bislang tabuisierte oder vernachlässigte Themen literarisch bearbeitet worden. Für die Protektoratszeit und die anschließende Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung stehen Autorinnen wie Radka Denemarková, Kateřina Tučková oder Anna Zonová ein. Petra Hůlová oder Stanislav Komárek widmeten sich außereuropäischen Kulturen.
Auch die 1973 in Prag geborene Markéta Pilátová hat mit ihrem bemerkenswerten Debütroman ein Fenster aufgestoßen. Sie konfrontiert das tschechoslowakische Mutterland des 20. Jahrhunderts mit der neuen Heimat exilierter Tschechen in Südamerika.
Zwei Protagonistinnen des Romans, Maruška aus Prag und Luiza aus Sao Paulo, beginnen ihre Schicksale ineinander zu verknüpfen. Hergestellt wird diese ungeahnte Verbindung durch Jaromír, der im brasilianischen Exil Luiza geheiratet, aber über fünf Jahrzehnte hinweg brieflichen Kontakt zu seiner Jugendliebe Maruška gehalten hatte. Die beiden Konkurrentinnen treffen auf Initiative von Luiza im Prag der 1990er Jahre aufeinander – nach dem Selbstmord von Jaromír. „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein, wo er uns doch beide geliebt hat“, rechtfertigt Luiza ihre unangekündigte Aufwartung.
Das Schicksal Jaromírs und der beiden Frauen illustriert zugleich die Wirren eines totalitären Jahrhunderts. Jaromír hat als Jude die Auswanderung mit seinen Eltern nach Südamerika rechtzeitig geschafft. Im Dienste des amerikanischen Geheimdienstes war er jedoch nach Böhmen zurückgekehrt und bei illegalen Aktionen gefasst und in ein deutsches KZ verbracht worden. Nach dem Krieg floh er vor der kommunistischen Diktatur wieder nach Brasilien und flottierte als Spion ab und an für Spezialaufträge nach Europa.
Dieses europäische Schicksal wird Schritt für Schritt aus der Rückblende entfaltet. Mit Marta und Lena sind zwei junge Frauen dargestellt, die als Nachkommen tschechischer Emigranten in Brasilien aufgewachsen sind. Die kunstvolle Verknüpfung dieser vier Frauengeschichten zu einer literarischen Komposition belegen das erzählerische Geschick Markéta Pilátovás. In Marta und Lena ist eine innere Zerrissenheit geradezu biographisch angelegt. Sie kennen aus ihrer Kindheit die Melange von Zweifel, Vorwürfen und der Frage nach einer eventuellen Rückkehr nach Böhmen, widersprüchlich von Eltern und Großeltern diskutiert: „Das gleiche Jammern nach der heimatlichen Scholle, und gleichzeitig diese schwer definierbare Abneigung dagegen.“ Lena fragt sich auf ihrer Hazienda, ob sie als Farmerin weitab von der Großstadt alt werden soll und Marta flieht vor der zänkischen Mutter – und beide landen schließlich im fremden Prag.
In Prag laufen dann die Fäden zusammen, ohne dass sich die Beteiligten darüber bewusst sind. Aber selbstverständlich liegen die Dinge viel komplizierter.
Jaromír hat, das zeigt die Lektüre seiner Briefe, Luizas Zuneigung zu ihm für seine Spionagetätigkeit benutzt, wenn wohl auch nicht missbraucht. Jaromír war ein Abenteurer, dem seine böhmische Kindheit in den Knochen steckte: „Ich wollte meinen Drang ausleben, anders zu sein, von dem ich besessen war, seit ich als Knabe auf dem Hof des grau gestrichenen Gymnasiums stand, als wir alle wie ein Mann in Reih und Glied die Brust herausreckten und alle die gleichen kurzen Hosen des Sokol-Turnvereins und weiße Leibchen trugen.“
Eine metaphysische Überhöhung hatte Jaromírs Leben zusätzlich in Bann gehalten, seit er sich im KZ in eine Zigeunerin mit gelbbraunen Augen verliebt hatte. Vor allem in ihrem sinnlichen Tanz war eine Dimension in seinem Leben erweckt worden, die alle dürftige Wirklichkeit überlagert hatte.
Eine Überhöhung der Wirklichkeit kennen aber auch Lena und Marta von ihrer brasilianischen Lebenswelt. Spiritismus und Vodoo-Zauber nehmen dort einen festen Platz ein und werden keineswegs belächelt.
Der Spannungsbogen dieses intelligent komponierten Romans wird von einer schönen, kräftigen Sprache getragen. Wenn Jaromír im feindlichen Hinterland umherschleicht, „wirkten die Baumstämme im Vorabendnebel ratlos“ und nachdem Lena ihren Schwarm Roberto gewaltsam verloren hatte, „ging sie oft zum Fluß, im Gebüsch funkelten die Augen der scheuen Ameisenbären, und ich versuchte mir das grüne Hemd vor Augen zu rufen, das so gut zu den Augen des Trophäen-Mannes gepasst hatte“.
In diesem Roman finden sich exotische Bilder der brasilianischen Welt ebenso wie die grauen Jahre des Stalinismus in der ČSSR. Eine junge Generation der postkommunistischen Ära sammelt „Namen von kommunistischen Süßigkeiten“ und zerbricht sich den Kopf über ihre Zukunft in einer freien Welt.
Das Ende in diesem Roman ist glücklich, aber nicht auf die gleiche Weise. Es findet Heimkehr statt, aber mit überraschenden Wendungen. (bal)
Literaturhinweis:
PILÁTOVÁ, MARKÉTA: Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein. Aus dem Tschechischen von Michael Stavarič. Residenz Verlag, Salzburg 2010. 206 S., 19,90 €.