Von Claire Horst
Dass sie da sind, wissen wir alle: Menschen ohne Papiere, Illegalisierte. Doch in der Öffentlichkeit finden sie kaum Erwähnung. Als Elendsfiguren tauchen sie hin und wieder auf, wenn wieder einmal ein Haufen schwarzer Körper an den beliebten Badestränden der Europäer angespült wird. Wenn von Zwangsprostitution die Rede ist oder von Schmugglerbanden, wenn es wieder einmal ein Sommerloch zu füllen gilt mit den Geschichten von Musikerbanden auf deutschen Fußgängerzonen. Aber wer sind diese Menschen wirklich? Arbeiten sie tatsächlich alle irgendwo zwischen Prostitution und Drogenhandel, wie es in Feridun Zaimoglus Texten manchmal scheint?
Björn Bicker, Dramaturg an den Münchner Kammerspielen, hat sich mit ihnen unterhalten. In „Illegal“ gibt er den Menschen eine Stimme, die unter uns sind und die doch keiner sieht. Und diese Stimmen erschüttern. Beispielhaft hat Bicker drei Migranten ausgewählt, die abwechselnd zu Wort kommen, jeder mit seiner eigenen Sprache. Überhaupt spielt die Sprache eine große Rolle in diesem Prosatext. Im Gegensatz zu Zaimoglu – es gibt nur wenige deutsche Texte, die sich mit dem Thema illegaler Migration beschäftigen, dass er fast zwangsläufig zum Vergleichsautor wird – kreiert Bicker keinen Fantasiejargon, seine Protagonisten sind keine „Kanaksta“. Auch ihre Sprache ist kunstvoll verfremdet.
Der erste Sprecher stammt aus der Ukraine und spricht vier Sprachen. Er ist nach seinem Studium einfach geblieben, lebt von Gelegenheitsjobs. Dabei trauert er seiner Freundin nach, die in die Ukraine zurückgekehrt ist – ihre schlechten Zähne machen ein Leben ohne Krankenversicherung unmöglich. Manch einer würde diesen Fall mit einem einzigen Wort abtun: Wirtschaftsflüchtling. Und das ist das ganz Wunderbare und für deutschsprachige Literatur ganz Neue an Bickers Text: Auf Rechtfertigungen legt er überhaupt keinen Wert. Es kann keine Frage sein, ob und warum ein Mensch das Recht auf ein würdiges Leben hat. Seine Figuren sind widersprüchliche, ganz normale Menschen, weder Opfer noch Helden. Sie haben nur das Pech, nicht auf der goldenen Seite der Welt geboren zu sein.
Das gilt genauso für den Flüchtling aus Kurdistan, der seine Foltererfahrung nicht beweisen kann und daher kein Asyl erhält, wie für die Frau aus Bolivien, die ein Kind verloren hat und jetzt auf die Kinder anderer Leute aufpasst. Keiner von ihnen lamentiert, keiner fordert Mitleid. Sie stellen sich einfach dar, und je mehr man davon liest, umso unbegreiflicher wird eine altbekannte Tatsache: Niemand interessiert sich für die „Illegalen“.
Die einzelnen Texte verbindet der Theaterautor Bicker mit einer an Sprechgesänge erinnernden Satzmontage: neue menschen / wir arbeiten. / wir sind ordentlich. / wir sind fleißig. / wir haben einen traum. / wir sind krank. / wir sind gesund. / wir sind müde. / wir schwitzen. / wir sind ruhig. / wir sind wach. / wir sind nervös. / wir wohnen. / wir wohnen in zimmern.
Dabei werden die Einzelstimmen immer mehr zu Sprechern einer ganzen Subkultur. Denn es sind Tausende, die sich in Deutschland unter den unwürdigsten Bedingungen durchschlagen, die unser Gemüse anbauen oder unsere Häuser mauern. Zu ihrem Alltag gehört das Musikmachen in einer Band genauso wie das Übernachten in leer stehenden Bauruinen. Bicker beschränkt sich nicht auf die Extreme, doch er zeigt auch sie. An keiner Stelle wertet der Autor, weder nimmt er Stellung für noch gegen seine Protagonisten. Sie sind ganz einfach Menschen mit ebenso unterschiedlichen Lebenszielen und Bedürfnissen wie alle anderen auch. Äußerst ungewöhnlich ist eine solche Darstellung für die deutschsprachige Literatur: Weder Helden noch Opfer werden hier dargestellt.
Erst im letzten Monolog scheint noch eine andere Perspektive auf. Als letzte Sprecherin tritt eine Mitarbeiterin einer Beratungsstelle für illegalisierte Migrant(inn)en auf. Was unterscheidet sie von anderen Menschen? Etwas Simples: Sie sieht die Menschen, um die es hier geht. Und daraus resultiert ganz direkt ihre Entscheidung, ihnen helfen zu wollen.
Björn Bicker, geb. 1972, studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen und Wien und arbeitet seit 2001 als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen. Er schreibt Hörspiele und Bühnentexte, „Illegal“, sein erstes Buch, entstand aus Recherchen zu einem Theaterstück. Seine Sprachcollage beweist: Politisch engagierte Literatur muss nicht nerven, im besten Fall rüttelt sie auf und öffnet ein paar Augen. Diesem Buch gelingt das uneingeschränkt, und das aus zwei Gründen. Es nimmt seine Figuren ernst, und es entwickelt seine ganz eigene, so poetische wie anspruchsvolle Sprache.
Literaturangabe:
BICKER, BJÖRN: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da. Antje Kunstmann Verlag, München 2009. 128 S. 14,90 €.
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