Von Leonhard Reul
Bücher üben eine besondere Wirkung auf Menschen aus. Bücher speichern diverse Inhalte, die uns Lesern Auskunft über uns und unsere Kultur (-techniken) geben. Bibliotheken können diese Auskünfte besonders detailliert und umfassend erteilen. Dementsprechend groß ist der Respekt der Leser vor solchen Bücherspeichern. Uwe Jochum hat über diese (H)Orte des Wissens ein Buch geschrieben. Was ist von dieser 150 Seiten starken Bibliotheksgeschichte zu halten?
Jochum gliedert den Band in sechs Kapitel. Er beginnt mit der „Bibliothek in der Höhle“. Diese Entscheidung verwundert zunächst. Denn sind Ausführungen zu Höhlenmalerei und zum allmählichen Übergang hin zur Schriftlichkeit wirklich notwendige Startpunkte? Oder sind diese Hinführungen nicht lässliche Präliminarien? Was gewinnt der Leser durch einen so früh gewählten Einstieg? Bewusstsein über den manifest nachvollziehbaren Beginn menschlicher Reflexionsarbeit, antwortet Jochum. Und der Schriftgewinn ist insofern wichtig, weil ohne Schrift keine ortsungebundene Tradierungsarbeit möglich geworden wäre. Jochum drückt das komplexer und gewichtiger aus. Manchmal ist das ein Nachteil. Denn die gewählte Setzart (Zweispaltendruck) ist an sich nicht gerade lesefreundlich, die vielen Zeilenumbrüche rauben Konzentration. Im Verbund mit Jochums streckenweise sehr spezialisierter Sprache locken dann eher die Abbildungen, die durchweg gut gewählt und knapp kommentiert auf jeder Seite eingestreut sind. Jedoch muss man Jochum zugutehalten, dass er seinem Leser noch mehr Information zumuten könnte und dies nicht tut, sondern weiterführende Fußnoten setzt. Auch sein Literaturverzeichnis und ein ausgezeichnetes Register verdienen Lob.
Das zweite Kapitel birgt wieder einen eigentümlichen Fokus: „Kosmologische Bibliotheken“, so hat es Jochum überschrieben. Er zeigt in diesem Kapitel Verschränkungen in Textkörpern auf, Theologie und Politik waren in der Frühzeit ununterscheidbar: „Die Transzendenz fällt mit der Immanenz zusammen, das Reich der Götter muss jederzeit im politischen Reich seinen Ausdruck finden können, und jedes noch so unscheinbare Verwaltungshandeln wird letztlich zu einem bürokratischen Dienst an der Erhaltung des Kosmos und mithin zu Heilshandeln und Gottesdienst.“ Die Verwaltungsbelege lassen sich in jener Zeit (der Sumerer, der Ägypter) noch nicht von wirtschaftlich oder juristisch zweckfreier Schriftlichkeit unterscheiden, daher gibt es auch noch nicht die heute übliche Trennung zwischen Archiv und Bibliothek.
In den „imperialen Bibliotheken“ ist diese Unterscheidung schon mancherorts auffindbar. So ist zum Beispiel Alexandria als Hort der nicht archivarischen Schriften zu begreifen. Dieser Trend setzt sich in Rom fort. Hier gibt es nämlich Eliten, die Rechnungen auf schlechterem Papyrus separat von den theologisch-moralischen Schriften halten. In ihren Heimstätten haben sie zudem eigens eingerichtete Bücher-räume. Die Römer begriffen private Bibliotheken als „Ort für das intellektuelle Gespräch unter Freunden und mit Künstlern, Ort der Rezitation vor geladenem Publikum und Symbol des gesellschaftlichen Geltungsanspruchs und Status ihres Stifters“. Roms Anspruch, als politischer Besatzer eine kulturell integrierende Funktion einzunehmen, spiegelt sich im gewollten Wissensaustausch und Vernetzungsanspruch unter seinen neuen Kulturvölker wieder.
Mit dem Scheitern Roms scheitert auch dessen Bibliothekskonzept einer politisch-kulturellen Identitätsstiftung. Es bedarf einer transzendenten, außerweltlichen Orientierung, die nun in den Klosterbibliotheken, den „Bibliotheken des Heils“, zu finden ist. Ähnlich den kosmologischen Bibliotheken stehen diese nur einem kleinen Adressatenkreis, nämlich den dem Gottesdienst Verpflichteten, offen. Das Themenspektrum ist aufs Religiöse hin verengt und je nach Orden nochmals spezialisiert – so findet die Scholastik als neue Denkrichtung nicht allen Ortens Einzug. Bibliotheken sind zu diesem Zeitpunkt noch weit vom Anspruch allumfassender Offenheit und Nützlichkeit entfernt.
Diesen Status erlangen erst die „Bibliotheken des Nutzens“. Jochum zählt zu diesen private Bibliotheken mit öffentlichem Zugang, aber auch Fürstenbibliotheken, sofern sie das Interesse verfolgen, den Nutzen der Gemeinschaft oder einer wissenschaftlichen Disziplin zu mehren. Da Klosterbibliotheken in Konkurrenz zu diesen Konzepten standen und aus der Immanenz herauswiesen, wurden sie bekämpft (Säkularisation 1803) oder zu übertreffen gesucht. Die weltlichen Herrscher schufen Wissenstempel, ermöglichten so wissenschaftlichen Fortschritt und inszenierten sich als Stifter (des rechten Gedankenguts). Erst allmählich gingen diese Bibliotheken in systematisch aufgestellte (Universitäten zugeordnete) Zweckbauten über, die mit entsprechenden Personal und Instrumenten (Kataloge, Magazine) der „Sache selbst“ verpflichtet waren und nicht länger zu inszenieren trachteten. Hier zeigt uns Jochum die Bibliotheksgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte als Fortschrittsgeschichte.
Ob mit den „Bibliotheken im Netz“ tatsächlich der Wendepunkt dieses Fortschreitens erreicht ist, muss der Leser selbst beurteilen. Jochum gibt ihm einige Gründe an die Hand, seine hier pessimistisch zu nennende Auffassung zu teilen. So führt er aus, warum die Digitalisierung eine störungsanfällige Form der Wissensarchivierung darstellt und es dem stofflichen Menschen nicht entgegenkommt, lediglich virtuelle Buchbestände zu gebrauchen. Doch sind diese Argumente nicht immer schlagend. Was jedoch als Negativum schwerer wiegt, ist der plötzliche Wechsel von einer historisch sehr sachlich deskriptiven Darstellung hin zu einer etwas argwöhnenden Hypothesenbildung angesichts der potenziell nachteilsreichen Digitalisierungsprozesse. Dies passt nicht ins Buch. Zwar ist diese Haltung an sich durchaus bedenkenswert – jedoch hat sie eben wenig in einer „Geschichte der abendländischen Bibliotheken“ zu suchen. Sondern sie gehört eher in kommunikationstheoretische Thesenpapiere, wo sie Jochum überdies schon platzierte.
Also doch H.-M. Enzensbergers Sentenz als Gesamturteil? Wirf fort das Buch und lies (ergänze: anderswo weiter)? Nein. Jochum bringt über weite Strecken gut recherchierte Information, weitet den Horizont der Bücherfreunde, Historiker und Soziologen. Er erfreut uns zudem mit sehr eindrucksvollen Abbildungen, die das öffentliche Buchwesen illustrieren. Der Hinweis auf die eine oder andere Privatbibliothek hätte dem Buch nicht geschadet, hätte wohl aber den Umfang gesprengt. Insofern: Fünf Kapitel ein gelungener Band - und das sechste lese man eben als das, was es ist: eine (ins Geschichtsbuch eingeschmuggelte) These.
Literaturangabe:
JOCHUM, UWE: Geschichte der abendländischen Bibliotheken. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 160 S., 87 farb. und 17 s/w Abb., 29,90 €.
Weblink:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft