Von Mathias Schick
„Aha, Sie sind also Philosoph.“ Nicht selten klingt in dieser Feststellung ein leicht abschätziger, bestenfalls unsicherer Unterton mit. Vorurteile sind schnell bei der Hand: Philosophen versuchen vom Lehnstuhl aus, die Welt zu verstehen. Ein Widerspruch in sich? Sie beschäftigen sich mit schöngeistigen, letztlich aber belanglosen Fragen. Ist Schöngeistiges belanglos? Was sie denken, scheint unverständlich. Ist es das auch, nur weil es so scheint? Und stimmt das? Sie fragen und hinterfragen und zerreden und finden kein Ende. So?
Es gibt zahlreiche Versuche, zwischen den Welten der Philosophen und den Welten der anderen zu vermitteln. Dabei wird oft angestrebt zu zeigen, dass diese Welten eigentlich gar nicht verschieden sind. Unter einem guten Stern stehen die Versöhnungsbemühungen, wenn der Vermittler eine transparente Sprache spricht und es versteht, durch klare Darstellung Spannung und Lust zum Mitdenken zu wecken. Richard Raatzsch, gelernter Eisengießer und Berufsphilosoph, vereint diese Fähigkeiten auf sich und setzt diese dafür ein, dem geneigten Leser einen der interessantesten Denker der Moderne nahezubringen. Ein Glücksfall.
In seiner Einführung zu Wittgenstein changiert er derart gekonnt zwischen Philosophie und Biografie, dass sich vor dem geistigen Auge des Lesers wie von selbst Denkpanoramen eröffnen, die einen Sog entstehen lassen. Was tat dieser Wittgenstein mit der Philosophie? Er identifizierte als ihre vordringliche Aufgabe, offene Fragen als Krankheit zu betrachten, die therapiert werden müssten. Da eine Krankheit eine Anomalie des Gesunden und unter Umständen bedrohlich und schmerzhaft ist, gilt es, sie zu heilen – so könnte eine Interpretation lauten.
Wittgensteins Leben steht ganz im Zeichen dieser allumfassenden Genesungsmission. 1889 in eine der reichsten österreichischen Familien hineingeboren, versucht er in jungen Jahren noch - anders als seine Brüder, denen unabhängige Genialität attestiert wird - den Erwartungen anderer zu entsprechen. Mit 17 Jahren entspricht er dem väterlichen Willen und nimmt ein Ingenieurstudium auf. Dabei entdeckt er seinen Hang zu den Grundfragen der von ihm studierten Wissenschaften. Gespalten zwischen dem eigenen Drängen und den Wünschen des Vaters, entscheidet er sich schließlich auf Anraten Bertrand Russells, eines großen zeitgenössischen Philosophen und Mathematikers, in Cambridge ein Studium der Philosophie aufzunehmen. Es verstreichen nur ein paar Wochen, bis Russell verlautbart, dass er die nächste Revolution in seiner Disziplin von niemand anderem als dem gerade einmal 22-jährigen Frischling erwarte.
Er sollte sich nicht täuschen. Während des Ersten Weltkrieges arbeitet der Soldat Wittgenstein den „Tractatus Logico-Philosophicus“ aus. Er verfolgt darin nicht die übliche Beantwortung großer philosophischer Fragen, sondern die Arbeit an den Fragen selbst. Er zeigt auf, welche Fragen überhaupt sinnvoll gestellt – und verstanden – werden können und welche nicht. Dabei entsteht ein revolutionäres Bild vom Menschen und von den Grenzen seiner Welt, das maßgeblich auf seiner Sprache gründet.
Nach der Veröffentlichung des Tractatus zieht sich Wittgenstein mit der Überzeugung, alle wesentlichen Fragen gelöst zu haben, aus der Philosophie zurück. Er entscheidet sich, vermutlich unter dem Eindruck Tolstois, zum moralischen Wirken und ergreift den Beruf des Dorfschullehrers, den er, in großer Bescheidenheit lebend, in Österreich ausübt. Seinen vom Vater geerbten Vermögensanteil gibt er an die Geschwister weiter und setzt einen kleineren Teil zur Förderung von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke ein. Nach einigen Jahren zieht es ihn zur Philosophie und nach Cambridge zurück. Dort entwickelt er von 1929 bis zu seinem Tode im Jahre 1951 seine Gedanken fort. Wichtige Fragen waren noch nicht gelöst. Zahlreiche Schriften korrigieren den Tractatus und erweitern seine Ansätze. In Wittgensteins Denken werden bis zuletzt Anthropologie, Sprachphilosophie, Erkenntnisphilosophie, Moralphilosophie, Logik und Ästhetik in einer ganz und gar ursprünglichen, man möchte sagen, unakademischen Weise verbunden.
Einige der zentralen Momente hat Richard Raatzsch übersichtlich versammelt und miteinander in Verbindung gebracht. Dabei gelingt es ihm, das Abenteuer der Wittgenstein’schen Gedankenwelt erfahrbar zu machen, ohne ihn zu sehr zu vereinfachen. Am Ende der Lektüre steht dem geneigten Leser nur eines im Sinn: auf die Originalschriften dieses großen Philosophen zurückzugreifen, dessen Einsichten von einer Tiefe und Klarheit sind, die ihresgleichen bis heute suchen und unabhängig von der Frage nach Erlösung von der philosophischen Krankheit ganz und gar wohltuend sind.
Literaturangabe:
RAATZSCH, RICHARD: Wittgenstein. Zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2008. 250 S., 14,90 €.
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