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Wo die Grimms die Märchen holten

Auf den Spuren der Grimmschen Quellen

© Die Berliner Literaturkritik, 28.04.09

 

KASSEL (BLK) – Ulf Marckwort ist die Kameraobjektive am Zaun schon gewohnt. „Früher sind die japanischen Touristen sogar busweise vorgefahren“, erzählt der Buchillustrator im Garten seines Fachwerkhauses im Kasseler Stadtteil Niederzwehren. Inzwischen dürfte es in unzähligen Fotoalben auf der ganzen Welt kleben – nicht wegen seines schmucken Anblicks und auch nicht wegen Marckwort, sondern wegen einer vormaligen Bewohnerin. Hier lebte vor 200 Jahren Dorothea Viehmann, die den Brüdern Grimm einen beträchtlichen Teil ihrer „Kinder- und Hausmärchen» erzählte – und damit erheblich zum noch immer größten Bestseller deutscher Sprache beitrug.

Mindestens 37 Texte, darunter Klassiker wie „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ und „Die kluge Else“, gehen zurück auf die Schneidersgattin, die mit dem Verkauf ihrer Gartenprodukte auf dem Kasseler Markt die Haushaltskasse aufzubessern pflegte. Wilhelm und Jacob waren von ihrem Gedächtnis und ihrem Erzähltalent so beeindruckt, dass sie die „Viehmännin“ als einzige ihrer Quellen persönlich erwähnten und ihr Porträt später sogar auf den Einband setzten. Ansonsten ließen sie es bei Hinweisen wie „aus Hessen“ oder „aus Cassel“ bewenden.

Zur Feldforschung zu schüchtern

„Es waren einmal zwei wackere Brüder, die sommers wie winters über die Dörfer zogen und getreulich die Geschichten aufschrieben, die arme, runzlige Bauersfrauen abends am Herd erzählten.“ Diese Vorstellung ist so zählebig wie falsch. Echte Feldforschung war nach Einschätzung des Grimm-Forschers Heinz Rölleke nichts für Jacob und Wilhelm, „die in ihrer sprichwörtlichen Schüchternheit nie zu den Märchenerzählern selbst gingen, sondern immer warteten, bis diese zu ihnen kamen oder geschickt wurden“. Wilhelm selbst berichtete nach seiner einzigen Sammelexkursion zu einer alten Marburgerin ernüchtert: „Es ist mir schlecht ergangen. Das Orakel wollte nicht sprechen.“

Stattdessen spannten die Grimms andere ein für ihr Vorhaben, die seinerzeit von der literarischen Öffentlichkeit noch weithin gering geschätzten, von der beginnenden Industrialisierung aber schon akut bedrohten mündlichen Märchentradition zu sammeln – während gleichzeitig die napoleonischen Kriege die alte Ordnung Europas zertrümmerten. Mit der Zeit bauten sie einen Kreis aus rund 40 Personen auf, die ihnen zulieferten. In Kassel und Umgebung lassen sich manche ihrer Wohnorte finden.

Nicht alle sind indes so schön erhalten wie das Haus der Viehmanns in Niederzwehren. Der Wohnblock am Ende der Sackgasse unweit des Altmarkts etwa hat in seiner 50er-Jahre-Kargheit nichts Märchenhaftes. Die Tür könnte mal wieder einen Anstrich vertragen, ein paar Satellitenschüsseln peilen den Himmel an. Bis zu den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs stand hier das Haus, in dem die Brüder Grimm während ihrer Arbeit an den Märchen wohnten. Hier empfingen sie die „Viehmännin“, deren Bekanntschaft ihnen die Töchter eines französischen Stadtpredigers vermittelt hatten: „Sie kommt fast alle Woche einmal und lädet ab, da schreiben wir an 3-4 Stunden abwechselnd ihr nach“, notiert Wilhelm im Juli 1813. „Die Frau kriegt jedesmal ihren Kaffee, ein Glas Wein und Geld obendrein.“

Vornehme Töchter statt runzliger Bauersfrauen

Als Mittfünfzigerin vom Dorf und aus eher beschränkten materiellen Verhältnissen ist Dorothea Viehmann nicht gerade repräsentativ für die Helferinnen der Grimms. Die meisten waren literarisch gebildete Damen aus dem Adel oder dem gutsituierten städtischen Bürgertum, oft mit französisch-hugenottischem Hintergrund und genauso jung wie Jacob und Wilhelm, die sich mit Anfang 20 an ihr Sammelwerk gemacht hatten. Ganze Generationen von Märchen-Fans und -Forschern wollten das nicht wahrhaben. Bis in die 1970er Jahre geisterte eine Hausmagd namens „alte Marie“ als zweite Hauptquelle durch die Grimm-Literatur.

An der Straße von Kassel nach Wolfhagen liegt das Dorf Hoof, und an dessen Rand wiederum ein stattliches Gutshaus mit ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden und alteingewachsenem Baumbestand. Hier lebte zeitweise jene „Marie“, der Wilhelm Grimm in seinem persönlichen Handexemplar das „Dornröschen“-Märchen zuschrieb. Doch sie war nicht Magd, sondern Herrin, und alt war sie auch nicht. Marie Hassenpflug war Tochter eines späteren Regierungspräsidenten und 20 Jahre alt, als sie 1808 in Kassel die Grimms kennenlernte. Fortan besuchte sie mit ihren Schwestern deren literarischen Gesprächskreis. Von ihr stammen mindestens 20 Märchen, darunter „Dornröschen“, „Schneewittchen“ und „Rotkäppchen“.

Das Märchen von der „alten Marie“

Der erste, der überhaupt eine Identifizierung der Gewährsleute versuchte, war Wilhelms Sohn Hermann. Jahrzehnte nach dem Tod seines Vaters wertete er dessen Notizen aus, ordnete den Namen „Marie“ aber einer früheren Magd zu, die er selbst nur noch aus Erzählungen kannte – ein Irrtum, den die nachfolgende, zunehmend deutschnational empfindende Forschung nur zu gern übernahm und sogar noch ausschmückte. Schließlich passte eine Alte aus dem einfachen Volk viel besser ins traditionelle Märchenbild als eine 20-jährige Hugenotten-Tochter, in deren begütertem Elternhaus man ausschließlich Französisch parlierte.

Dabei erklärt erst dieser kulturelle Hintergrund die überdeutlichen Anklänge der Grimmschen Sammlung an die Märchentradition des Nachbarlandes. Dort hatte Charles Perrault schon über 100 Jahre zuvor die Vorbilder für „Dornröschen“, „Rotkäppchen“ und „Aschenputtel“ veröffentlicht.

Jacob und Wilhelm kannten diese Bezüge, machten sie aber nicht kenntlich. Einzige Reaktion war, dass sie in späteren Auflagen den „Gestiefelten Kater“ wegen allzu wörtlicher Übereinstimmung mit der französischen Fassung wegließen. Märchen waren für die Grimms eine Art kollektiver und übernationaler Überlieferung. Deshalb war es in ihren Augen nicht wichtig, wer genau eine bestimmte Geschichte zugeliefert hatte: „Für das Publikum sollte die Sammlung sozusagen den anonymen Volksgeist repräsentieren, hinter dem die Einzelbeiträger und die Umstände der Textgewinnung zurückzutreten hatten“, schreibt Rölleke.

Volksgeist mit Akzent

Zur Verkörperung dieses Volksgeists stilisierten die Grimms Dorothea Viehmann. Geschickt platzierten sie in der Vorrede ihrer Sammlung Schlüsselwörter wie „Bäuerin“, „über 50 Jahre alt“ und „ächt hessisch“ – obwohl ihre Gewährsperson höchstens als „Nebenerwerbs-Gartenbauerin“ bezeichnet werden kann, ebenfalls hugenottischer Abstammung war und ebenfalls Französisch sprach. Rölleke schätzt, dass etwa ein Drittel ihrer mindestens 37 Beiträge direkt oder indirekt von französischem Vorbild beeinflusst sind.

Den Rest, so vermutet der Wuppertaler Literaturwissenschaftler, hörte sie bei den Bauern und Fuhrleuten in der „Knallhütte“. In dem Traditionslokal an der Straße zwischen Kassel und Baunatal verbrachte sie die ersten 32 Jahre ihres Lebens. Seinen Namen verdankt das Gasthaus der Steigung, die die Kutscher früher dazu zwang, die Peitsche knallen zu lassen. Heute sind es dagegen die Motorengeräusche der vorbeibrausenden Autos, die sich ins Gläsergeklirr mischen.

In der „Knallhütte“ erinnert man seit einigen Jahren an die berühmte Tochter des Hauses. „Märchenhaft gastfreundlich“ steht über der Tür, der Innenraum ist mit Scherenschnitten nach Märchenmotiven dekoriert, und jeden Samstag hält eine junge „Viehmännin“ in historischer Tracht Märchenstunde.

Gefilterte Tradition

Von den unteren Gesellschaftsschichten holten sich auch andere Helfer der Grimms ihre Geschichten. Marie Hassenpflug und ihre Schwestern etwa befragten ihre Hausangestellten; dasselbe taten die Familien von Haxthausen und von Droste-Hülshoff, die aus Westfalen eifrig Beiträge nach Kassel schickten.

Doch die soziale Stellung der Sammler wirkte gleichsam wie ein Filter, glaubt Rölleke: „Die Dienstboten werden sich gehütet haben, ihren Herrschaften mit Zoten oder klassenkämpferischen Texten zu kommen.“ Die Folge für die Grimms: „Die sogenannte wirkliche Volksüberlieferung, die sich nicht zuletzt durch Abstruses, Fragmentarisches, Obszönes oder auch Aufmüpfiges auszeichnet, kam ihnen und kommt in ihrer Sammlung nicht vor.“

Der Dragoner im Damenkränzchen

Das Haus im Schauenburger Ortsteil Breitenbach verhüllt sein Alter hinter Rauputz und beschichteten Fassadenplatten, die man in den 60er Jahren auf das Fachwerk genagelt hat. Hier kam 1747 Friedrich Krause zur Welt, der später Dragonerwachtmeister wurde und nach seiner Pensionierung für die Grimms Geschichten aus dem Soldatenmilieu beisteuerte, etwa „Von der Serviette, dem Tornister, dem Kanonenhütlein und dem Horn“. Krause war einer der wenigen Männer im Grimmschen Märchenkränzchen, und er hatte auch nicht nur idealistische Motive. Für seine Beiträge ließ er sich von Wilhelm mit gebrauchten Hosen entlohnen – Stoff gegen Stoff sozusagen.

Solche Histörchen erzählt Friedhelm Lecke gerne. Er und seine Frau Elfriede leben heute in dem Haus, das sein Großvater 1907 Krauses Nachfahren abkaufte. Lecke wurde hier sogar geboren: „Das habe ich mit Friedrich Krause gemeinsam.“

Man kann sich das stilistische Gefälle zwischen den Beiträgen des Dorfdragoners und der Kasseler Fräuleins vorstellen. Die Leistung der Grimms war es, dieses Rohmaterial auf ein einheitliches Niveau zu heben und dabei volkstümlichen Ton mit literarischem Anspruch zu verbinden. „Fortwährend bin ich bemüht gewesen, Sprüche und eigentümliche Redensarten des Volks, auf die ich immer horche, einzutragen“, schrieb Wilhelm 1850 über seine Arbeit. „Aller guten Dinge sind drei“ und „Gnade vor Recht ergehen lassen“ sind Beispiele solcher Redewendungen, die erst bei der Überarbeitung in die Texte gelangten – genau wie die obligaten Anfangs- und Endformeln „Es war einmal“ und „und wenn sie nicht gestorben sind...“.

Mit der ursprünglichen „struppigen Volkspoesie“ (Rölleke) hatten diese „Buchmärchen“ schließlich nicht mehr viel gemein. Aber in ihrer Urform wären die „Kinder- und Hausmärchen“ nach Ansicht des Forschers nie ein Publikumserfolg geworden: „Nur so konnte damals der Durchbruch geschafft werden, dass sich bürgerliche und gutbürgerliche Kreise um die Literatur der sogenannten unteren Schichten plötzlich kümmerten und sogar dafür begeisterten.“

Von Wolfgang Harms


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