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Wolkengänger

Wie ein russisches Waisenkind laufen lernte

© Die Berliner Literaturkritik, 07.07.10

BERLIN (BLK) – Im März 2010 erschien beim Gustav Kiepenheuer Verlag das Buch „Wolkengänger“ der Autoren Alan Philps und John Lahutsky.

Klappentext: Er hatte keine Chance. Bis er aufstand. Und lief. Die ergreifende Geschichte eines Waisenjungen, dem niemand eine Chance geben will und der dennoch seinen Weg ins Leben findet. Als Wanja auf die Welt kommt, prognostizieren die Ärzte, dass er nie würde laufen können. Ihm droht ein Leben in den unmenschlichen Verhältnissen russischer Fürsorgeanstalten. Doch durch seinen Mut, seine Intelligenz und seinen unbändigen Willen entkommt er diesem Schicksal. „Wenn meine Geschichte nur ein Kind vor der Hölle bewahrt, durch die ich gegangen bin, war es die Mühe wert.“ John Lahutsky

Alan Philps studierte in Oxford und arbeitete als Russland-Korrespondent für Reuters und den Daily Telegraph. 1985 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen, durfte aber nach dem Fall des Eisernen Vorhang zurückkehren. Heute schreibt er u. a. für The Guardian, The Evening Standard und den Telegraph. Er lebt in London. (ton)

Leseprobe:

©Kiepenheuer Verlag©

PILZE UND PAPAGEIEN

1994 bis 1995

Sarah wusste nicht, dass zu dem Zeitpunkt, als sie mit ihren Besuchen im Babyhaus 10 begann, Wika dort bereits seit einigen Monaten ein und aus ging. Wanjas Schicksal war es, das die beiden Frauen zusammenführte. Doch dazu kam es erst, als er sich in größter Lebensgefahr befand.

Es war das Jahr 1994, und die eisernen Regeln der Sowjetzeit begannen sich zu lockern, wodurch sich Möglichkeiten eröffneten, die es zuletzt vor siebzig Jahren, also noch vor dem Beginn der kommunistischen Ära gegeben hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb Wika das Babyhaus inzwischen so problemlos regelmäßig aufsuchen konnte, auch wenn Adela Ärger mit den Behörden drohte, falls diese davon erführen.

Ich freundete mich mit einer Frau an, die als Betreuerin im Babyhaus arbeitete und mich eines Tages dorthin mitnahm. Niemand versuchte, mich daran zu hindern, Unterstützung fand ich allerdings auch keine. Meine Freundin arbeitete bei den Neugeborenen in Gruppe 1. Ich vernarrte mich regelrecht in ein kleines Mädchen namens Mascha. Die Ärzte hatten sie aufgegeben. Noch vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres hatten sie sie als körperlich und geistig unheilbar krank abgeschrieben. Doch ich konnte sehen, dass sie einfach nur Liebe und Zuwendung brauchte. Sie besaß ein so intelligentes Gesicht und unternahm erste Sprechversuche.“

Während Wika ihre ganze Aufmerksamkeit Mascha schenkte, erregte sie selbst jemandes Aufmerksamkeit. Eines Tages sei ein kleiner Lockenkopf in der Tür zum Nebenzimmer aufgetaucht, erinnert sie sich. „Er schaute herein, dann rief ihn eine barsche Stimme zurück. Er hatte gehofft, von mir bemerkt zu werden, doch er durfte sein Zimmer nicht verlassen – eine Vorschrift, die strikt eingehalten wurde.“

Wikas Freundin, die sie mit ins Babyhaus genommen hatte, verbitterte zusehends. Außer Füttern und Wickeln konnte sie nichts für die Kinder tun. Die Leitung des Babyhauses unternahm alles Erdenkliche, um Bindungen zwischen Personal und Kindern bereits im Keim zu ersticken. Als ihre Freundin eine Beziehung zu einem kleinen Mädchen aufbaute, wurden die beiden getrennt. Das Babyhaus schob die Kinder laufend zwischen den Gruppen hin und her, trennte sie von vertrauten Betreuerinnen und Freunden. Am nachteiligsten wirkte sich die starre Einteilung in „gesund“ und „krank“ auf die Kinder aus. Die Kranken kamen in Gruppe 2. Einmal deutete Wikas Freundin auf die Tür zur Gruppe 2 und sagte: „Diese Kinder werden alle sterben.“ Zu diesem Zeitpunkt verstand Wika noch nicht, wovon ihre Freundin sprach. „Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren“, erinnert sich Wika. Wenig später kündigte jene Freundin ihre Stellung.

Eines Tages musste Wika schockiert feststellen, dass Mascha in Gruppe 2 verlegt worden war. Ihr erster Eindruck von diesem Zimmer ist ihr bis heute in Erinnerung geblieben: „Es herrschte eine bedrückende Stille, wie in einem Krankenzimmer voller Sterbender. Mascha war kaum in diesem Raum angekommen, da begann sie bereits, all ihre bisher erworbenen Fähigkeiten einzubüßen. In Gruppe 1 hatte sie gelernt zu greifen und zu kauen, wenn auch später als normal. Sie konnte sogar selbständig mit einem Löffel essen. Doch die Betreuerinnen in Gruppe 2 hatten keine Geduld mit ihr, sagten, sie würde zu lange brauchen, um allein zu essen, und steckten ihr ein Fläschchen in den Mund. Sie banden sie in einem Stuhl fest, so dass sie sich nicht bewegen konnte. Eine der Betreuerinnen sagte zu mir: „Was hat es für einen Sinn, ihr etwas beizubringen? Was Sie auch tun, mit vier Jahren ist für sie sowieso Schluss. Sie ist verloren.“ Es gab nur ein Anzeichen von Leben in diesem Zimmer, und das war der lockenköpfige Junge, der sich mir als Wanja vorstellte. Er merkte sich meinen Namen und schenkte mir jedes Mal ein Lächeln, wenn ich Mascha besuchen kam. Ich konnte nicht begreifen, wie er es schaffte, an solch einem entsetzlichen Ort zu lächeln.“

Wika erinnert sich, wie er ihr stets auf liebevolle Art in den Ohren gelegen hatte, sie solle ihn doch auch einmal mit nach draußen nehmen. Er begriff sofort, dass sie Mascha in den Garten brachte, und hatte es sich zum Ziel gesetzt, ebenfalls nach draußen zu kommen. Doch Wika ließ seinen Wunsch unerfüllt. Sie dachte, er brauche sie weniger als Mascha.

Jedes Mal, wenn Wika mit Mascha zurückkam, fragte Wanja: „Gehst du jetzt mit mir nach draußen, Wika?“ Sie sagte immer nein. Eines Tages ertrug sie sein niedergeschlagenes Gesicht nicht mehr und gab nach. Als Wika ihn von seinem Stuhl hob, konnte er einen Freudenschrei nicht unterdrücken.

Es war ein sonniger, wenn auch leicht diesiger Tag mit vereinzelten Wolken am Himmel. Als sie Wanja durch die Tür nach draußen trug, erkannte Wika sofort, dass er Sonnenlicht nicht gewöhnt war, da er seine Augen mit den Händen abschirmte. Es war, als hätte er zeitlebens eine Augenbinde getragen, die ihm soeben jemand abgenommen hatte. Neugierig bestaunte er den heruntergekommenen Spielplatz.

Wika beschloss, ihm eine kleine Unterrichtsstunde in Sachen Natur zu geben und ihm die Namen der Bäume beizubringen. Sie brachte ihn zu einer Linde und zeigte ihm den dunklen Stamm und die hellgrünen Blätter. „Also, Wanja. Das ist eine Linde. Siehst du die Blätter? Sie sind herzförmig. Und im Sommer werden sie ganz klebrig.“ Sie half ihm, ein Blatt zu berühren, und er war fasziniert davon.

Sie sah sich auf dem Grundstück nach einem anderen Baum um. „Welche Bäume kennst du noch?“

Wanja schwieg. Wika gab ihm Hilfestellung – Tanne, Eiche, Ahorn? Bestürzt musste sie erkennen, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.

Irgendwann würde er zur Schule gehen. Er musste Bäume und Blumen kennen. Sie setzte ihn auf die Erde und suchte nach Blumen, doch außer Unkraut und ein bisschen Gras wuchs unter den Bäumen im Garten nichts.

Als sie sich nach Wanja umdrehte, sah sie, wie er seine Hand nach einer gelben Blume ausstreckte, einem einsamen goldenen Fleck im Schatten der Bäume. Sie pflückte die Blume und gab sie ihm. Er fasste sie am Stängel und bestaunte die verschachtelte Anordnung der Blütenblätter. „Das ist Löwenzahn. Er strahlt wie die Sonne, nicht wahr?“

„Sonne“, wiederholte Wanja. „Was ist die Sonne?“

Mit diesen vier Worten hatte Wanja eine schreckliche Wahrheit enthüllt. Für ihn war „draußen“ ein anderer Planet, auf den er nie einen Fuß gesetzt hatte, da er nie zuvor „draußen“ gewesen war. Alles, was er kannte, war das, was sich innerhalb der vier Wände von Gruppe 2 befand.

„Ich war fassungslos“, sagt Wika. „Egal, auf was um uns herum ich deutete, er kannte es nicht. Nicht den Himmel und nicht die Wolken, die über uns aufzogen, nicht das Gras, auf dem wir saßen, oder die Schaukeln, die regungslos neben uns hingen, oder das Tor, das ihn von der Außenwelt trennte. Verzweifelt suchte ich nach irgendetwas, das er kennen könnte. Einzig der schmutzigweiße Wolga Kombi, der vor dem Eingang stand, rief eine Reaktion hervor – Auto –, da er einmal mit einem Spielzeugauto gespielt hatte.“

Wika fühlte das Gewicht der Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, schwer auf ihren Schultern lasten. Was sollte sie ihm zuerst beibringen, wo mit dem Unterricht beginnen? „Wir fangen mit den Farben an“, beschloss sie.

Sie setzte Wanja ins Gras, stand auf und ging los, um das Grundstück nach etwas Buntem abzusuchen.

Es zogen immer mehr Wolken auf und die Atmosphäre wurde bedrückender. Eine einzige rote Mohnblume wuchs in dem mageren Boden. Im Sandkasten fand sie einen blauen Eimer. Es begann zu regnen, doch Wika suchte weiter nach Farben und geriet dabei immer weiter in den hinteren Teil des Gartens, von wo sie Wanja nicht mehr sehen konnte. Plötzlich donnerte es markerschütternd, der Himmel öffnete seine Schleusen, und dicke Regentropfen prasselten auf sie hernieder. Wika rannte los, um Wanja zu holen. Als sie um die Ecke bog, sah sie ihn auf dem Boden knien. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen, die Arme ausgestreckt und strahlte, während ihm der Regen das Gesicht runterlief und sein T-Shirt durchnässte.

Er sah aus wie ein Junge, der in einem ausgedörrten Land den lang ersehnten Monsun begrüßt. Doch dieser Junge lebte in Russland, einem feuchten Land. Er kannte den Regen nicht, weil er sein gesamtes bisheriges Leben in einem einzigen Zimmer verbracht hatte.

Wika rannte zu ihm, nahm ihn auf den Arm, tanzte mit ihm und teilte seine Freude. „Regen, Wanja. Das ist Regen.“

„Regen“, wiederholte er und legte den Kopf in den Nacken, um so viel wie möglich davon zu spüren. „Ich liebe dich, Regen.“

In diesem Moment erkannte Wika, dass Wanja genauso hilfsbedürftig war wie Mascha. Er war ein so eifriger kleiner Junge, der sich in einer beinahe geräuschlosen Welt selbst das Sprechen beigebracht hatte. Und dennoch wurde er so schmählich vernachlässigt. Mit fünf Jahren hatte er keine Vorstellung von Sommer und Winter, wie alt er war oder in welcher Stadt er lebte. Wie sollte er ohne dieses Wissen je in der Schule zurechtkommen?

Es gab nur eine einzige Betreuerin, die Wikas Sorge um Wanja teilte, und das war Walentina. Von allen Angestellten im Babyhaus war sie die Einzige, die nicht der Meinung war, dass körperlich behinderte Kinder auch geistig zurückgeblieben waren. Alles, was Walentina über Kindererziehung wusste, hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die groß geworden war, bevor die Bolschewiken der Institution Familie den Kampf angesagt hatten. Walentina hatte keine Ausbildung, aber sie verstand rein intuitiv mehr von Wanjas Bedürfnissen als sämtliche Fachleute im Babyhaus, die sich einem System beugten, in dem behinderte Kinder weggesperrt wurden.

Nach Ansicht des Personals waren die Kinder in Gruppe 2 nicht zu retten. Sie hatten sie abgeschrieben. Trotzdem brachte Walentina Wanja alte russische Gedichte und Lieder bei, die sie von ihrer Mutter und Großmutter gelernt hatte. Und sie freute sich über die lustigen Dinge, die er immer sagte. Wenn sie im Anschluss an ihren Dienst nach Hause kam, fragte ihr Mann stets: „Was hat dein kleiner Wanja denn heute gesagt?“ Trotz der anstrengenden Vierundzwanzig-Stunden-Schichten zwang sie Wanja, sich hinzustellen, und übte Laufen mit ihm. Die anderen Betreuerinnen legten ihm, einem Fünfjährigen, Windeln an, doch sie brachte ihm bei, aufs Töpfchen zu gehen.

Zehn Tage später platzte Adela frühmorgens während Walentinas Dienst in den Raum der Gruppe 2 herein und fragte aufgeregt, warum Wanja noch nicht wach und fertig angezogen für die Kommission sei, die auf ihn wartete. Das Wort Kommission versetzte Walentina einen Schock. Gemeint war die Kommission des Psychiatrischen Krankenhauses Nr. 6, die alle Kinder im Alter von vier Jahren begutachtete und deren Urteil das Schicksal der Kinder ein für alle Mal besiegelte. Aus irgendeinem Grund war Wanjas Beurteilung seit zwei Jahren überfällig. Jetzt, mit beinahe sechs, gab es jedoch kein Entrinnen mehr.

Schnell zog Walentina ihn an und wollte ihn gerade zum Frühstück – Haferbrei und etwas zu trinken – auf seinen Stuhl setzen, da sagte Adela, die wie ein aufgescheuchtes Huhn um sie herumrannte, dass sie die Kommission unmöglich noch länger warten lassen könnten. Nicht einmal die Haare durfte Walentina ihm mehr kämmen. „Dafür ist keine Zeit“, sagte Adela, nahm Wanja auf den Arm und eilte aus dem Raum.

Walentina lief zur Tür und schaute Adela nach, wie sie mit Wanja über der Schulter genau den Flur hinunterstolperte, den er nur wenige Tage zuvor voller Stolz in seiner Majorsuniform selbst entlanggelaufen war, auf dem Weg zu seinem großen Auftritt beim Neujahrsfest. Doch diesmal war sein Blick nicht nach vorn gerichtet, als Adela ihn in den Raum trug. Kurz bevor sie über die Schwelle traten, riss Wanja den Kopf nach oben und warf Walentina einen flehenden Blick zu. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen, doch die Tür ging zu.

Walentina war in der Hierarchie des Babyhauses zu unbedeutend, um Wanjas Beurteilung beiwohnen zu dürfen, auch wenn sie ihn von allen Betreuerinnen am besten kannte. Dort, wo beim letzten Mal der lamettageschmückte Weihnachtsbaum gestanden hatte, waren nun der Länge nach vier Tische aufgebaut, hinter denen fünf Frauen in weißen Kitteln saßen.

Adela platzierte Wanja auf einen Stuhl gegenüber der Tischreihe und zog sich in den hinteren Teil des Raumes zurück. Starr vor Angst saß Wanja den fremden Frauen gegenüber. Seine Frisur war eine Katastrophe – ein Teil der Haare klebte ihm im Gesicht, die anderen standen in alle Richtungen zu Berge. Sein Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen, verzweifelt auf der Suche nach jemandem, mit dem er Kontakt aufnehmen konnte. Er drehte sich nach Adela um, doch sie war mit dem Samowar beschäftigt, um den Mitgliedern der Kommission Tee zuzubereiten.

Adelas Stellvertreterin trat vor, in der Hand eine Akte mit Wanjas Krankengeschichte. Was sie vorlas, klang nach einem hoffnungslosen Fall: geboren im sechsten Schwangerschaftsmonat, Wiederbelebungsmaßnahmen, infantile Zerebralparese, Mutter Alkoholikerin, mit achtzehn Monaten von den Eltern in staatliche Obhut gegeben.

Inmitten des Berichts erhob sich ein Mitglied der Kommission von seinem Platz und fing wortlos an, neben, über und hinter Wanjas Kopf mit den Fingern zu schnippen.

Die Stellvertreterin setzte ihren Bericht fort. Trotz regelmäßiger Massagen, sagte sie, habe der Junge nie gelernt zu laufen.

An dieser Stelle meldete sich Wanja zu Wort. „Ich bin zum Neujahrsfest hierhergelaufen.“

Die Mitglieder der Kommission tauschten überraschte Blicke aus. Doch Adelas Stellvertreterin sagte, er erzähle Unsinn und sei nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe zu laufen.

Die Vorsitzende der Kommission forderte eine Frau aus ihrem Team auf, Wanjas Füße zu untersuchen. Die schob seine Hose hoch und begann, seine Beinmuskulatur durch Zwicken zu testen. Dann versuchte sie, seine Füße auf und ab zu biegen. Seinen Aufschrei ignorierte sie. Sie sagte, er verfüge über keinerlei Muskeltonus in den Beinen, und seine Sehnen seien zu stark verkürzt, als dass er jemals laufen könnte.

Eine andere, ältere Frau, die Logopädin, fragte Adela, warum sich in Wanjas Akte keine Aufzeichnungen zur Sprachtherapie fänden. Ohne ihm ihren Namen zu nennen, fing sie an, Bilder hochzuhalten, die Wanja benennen sollte.

Auf dem ersten Bild war eine Birke abgebildet, und auf die Frage der Logopädin, um was für einen Baum es sich hier handelte, antwortete Wanja in Erinnerung an die einzige Baumart, die auf dem Grundstück des Babyhauses wuchs: „Das ist eine Linde.“

Auch die Abbildung auf dem nächsten Bild kannte er. Es war eine Matrjoschkapuppe. Aber er verstand die Frage nicht, die ihm die Frau stellte: „Woraus ist sie gemacht?“ Er dachte nach und dachte nach. Dann sagte er: „Puppen machen Spaß.“

Es wurde immer schlimmer. Die Frau hielt das Bild einer Ampel hoch und fragte ihn, bei welcher Farbe man gehen dürfe. Doch Wanja hatte noch nie eine Ampel gesehen, denn er war noch nie draußen auf der Straße gewesen.

Als Nächstes zeigte sie ihm einen Laib Brot, was er ebenfalls nicht kannte, da er Brot bislang nur in Form von Scheiben gesehen hatte. Es folgten ein Pilz, eine Ameise, die Türme des Kremls, eine Angel und, zu guter Letzt, ein Papagei.

Zum Abschluss fragte ihn die Frau, welcher Tag heute sei.

„Heute ist Tante Walentinas Tag“, antwortete Wanja.

Er konnte die missbilligenden Blicke der Frauen nicht verstehen. „Und welcher Tag ist morgen?“, fragte sie, und er antwortete: „Morgen ist Nastjas Tag“, und fügte ungefragt hinzu, dass am Tag danach Tanjas Tag sei. Die letzte Frage lautete: „In welcher Stadt lebst du?“ Wieder überlegte Wanja lange. Dann sagte er: „Ich lebe hier, im Babyhaus.“

„Und wo ist das?“

„Ganz in der Nähe.“

Damit war der Test beendet. Die Mitglieder der Kommission begannen, sich zu beraten, wobei die Worte „schwachsinnig“, „bildungsunfähig“, „ausgeprägter Kretinismus“ und „unterentwickelte Sprache“ fielen. Dann wurde die Diskussion von der Vorsitzenden vorzeitig beendet, indem sie verkündete: „Er kommt in ein Internat.“ Eine junge Ärztin legte mutig Einspruch ein und schlug vor, ihn in einem Heim für Kinder mit infantiler Zerebralparese unterzubringen, wo er ein wenig Unterricht erhalten könnte. Doch die Vorsitzende wollte davon nichts wissen. Wanja könne nicht ohne Hilfe laufen, betonte sie, die anderen Kinder würden ihn umrennen, und es wäre viel zu viel Arbeit für das Personal.

Die Vorsitzende der Kommission erklärte die Beurteilung für beendet und forderte Adela auf, Wanja wegzubringen. Adela verließ ihren Posten neben dem zischenden Samowar, nahm Wanja auf den Arm, und erst in diesem Moment, als sein Schicksal bereits besiegelt war, setzte sie sich für ihn ein. „Er kennt jede Menge Lieder und Gedichte“, begann sie zaghaft. „Wenn Sie möchten, kann er sie aufsagen.“ Doch niemand beachtete sie. Alle waren schon mit der Akte des nächsten Kindes beschäftigt.

©Kiepenheuer Verlag©

Literaturangabe:

PHILPS, ALAN / LAHUTSKY, JOHN: Wolkengänger. Die wahre Geschichte eines russischen Waisenkindes. Kiepenheuer, Berlin 2010. 348 S., 19,95 €.

Weblink:

Aufbau Verlag


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