Von Carsten Hoffmann
ISTANBUL (BLK) – „Opposition ist eine türkische Tradition“, hat der Schriftsteller Yasar Kemal einmal erklärt. „Ich selbst war dreimal im Gefängnis. Das erste Mal mit 17 Jahren, dann wieder 1950, als ich gefoltert wurde. 1971 wurde ich wieder festgenommen, aber nach vielen internationalen Protesten wieder freigelassen. Es gibt keinen Zweifel – das Gefängnis ist die Schule der türkischen Gegenwartsliteratur.“
Am 6. Oktober 2008 feiert der kurdischstämmige „Grandseigneur“ des modernen türkischen Romans, der auch als unermüdlicher Kämpfer für Menschenrechte bekannt wurde, seinen 85. Geburtstag. Um Kemals genaues Geburtsdatum ranken sich aber Rätsel. Der Schriftsteller, der mit seinem 1955 veröffentlichten Roman „Ince Memet“ (Mehmet, mein Falke), weltweiten Ruhm erlangte, sagt, er sei wahrscheinlich 1923 geboren worden.
„Die Nomaden bei uns in der Cukurova kehrten gegen Ende Oktober von ihren Sommerlagern zurück. Zu dieser Zeit ungefähr muss ich auf die Welt gekommen sein“, sagt er. Laut Unionsverlag feiert Kemal seinen Geburtstag seit langem stets am 6. Oktober – dem Tag, an dem ihn sein Vater nach der Geburt offiziell bei den Behörden angemeldet haben soll.
Kemal kam in Gökceli in der südtürkischen Mittelmeerprovinz Adana als Sohn eines früheren Großgrundbesitzers auf die Welt. Seine Eltern waren 1915 aus Ostanatolien vor der russischen Besatzung geflohen und hatten sich schließlich in der Cukorova-Ebene niedergelassen. Als Kind verliert er bei einem Unfall ein Auge. Erst fünf Jahre alt muss er beim Beten in einer Moschee erleben, wie sein Vater erstochen wird. Der Junge wird schwer traumatisiert. Erst im Alter von zwölf Jahren überwindet er eine Sprachbehinderung.
Später arbeitet er auf Baumwollfeldern, als Traktorfahrer, in einer Bibliothek und als Hilfslehrer. Den Namen Yasar Kemal hat er sich als Pseudonym für seine Arbeit als Reportageschreiber der Tageszeitung „Cumhuriyet“ zugelegt.
Schon im Alter von 17 Jahren kommt er als Sozialist wegen seiner politischen Ansichten erstmals mit dem Gesetz in Konflikt. „In Yasar Kemals Büchern ist die Darstellung des Rassenwahns als Ausdruck offizieller Regierungspolitik kenntlich. Deshalb ist der Autor den Herrschenden lästig“, sagt Günter Grass 1997 in seiner Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Kemal. „Deshalb und um rechtsradikalen Anschlägen zu entgehen suchte er im Ausland einige Jahre lang Zuflucht. Doch er kehrte nach Istanbul zurück und wird dort, wo er in seiner Sprache und deren Legenden gebettet ist, weiterhin der herrschenden Regierung lästig bleiben.“
Die Kurden-Politik seines Landes hat Kemal immer wieder kritisiert. Gleichzeitig hat er betont, dass er die Türkei auf einem guten Wege sehe, auch wenn bis zu einem möglichen Beitritt zur Europäischen Union noch viele demokratische Reformen nötig seien. „Das türkische Volk ist sehr demokratisch eingestellt, aber man hat ihm die Demokratie nie gegeben“, sagte Kemal.
Literaturangaben:
KEMAL; YASAR: Memed mein Falke. Übersetzt aus dem Türkischen von Horst W. Brands. Unionsverlag, Zürich 2005. 352 S., 9,90 €