Von Vanessa Vollmer
MARBACH (BLK) - Ganz tief unter dem Deutschen Literaturarchiv auf der Marbacher Schillerhöhe (Baden-Württemberg) lagert das Manuskript zu Franz Kafkas „Der Prozess“. Sicher verwahrt. Nur wenige dürfen zu ihm vorrücken. Zu empfindlich ist das poröse Papier aus dem frühen 20. Jahrhundert. Doch nun begehrt plötzlich jemand vehement Einlass in das sichere Lager und erhebt sogar Anspruch auf das mit schwarzer Tinte beschriebene Dokument. Die israelische Nationalbibliothek fordert den Nachlass von Kafkas Freund Max Brod. In Marbach ist man darüber sehr erstaunt.
Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung, hat sich dünne weiße Handschuhe übergestreift. Vorsichtig nimmt er die erste Seite des Originaldokuments von Restauratorin Beate Küsters entgegen. Dieses eine Blatt wird nicht unter Verschluss gehalten, sondern kann von allen Besuchern des Literaturmuseums der Moderne auf der Schillerhöhe in Augenschein genommen werden. Die Handschuhe sollen Fingerabdrücke vermeiden. Sie könnten dem Manuskript schweren Schaden zufügen. „Das Papier hat eine schlechte Qualität“, erläutert Küsters. Feuchtigkeit und Licht schaden den Blättern.
Von Bülow dreht die Seite ein Stück und dann ist deutlich zu sehen, was Kafka darauf geschrieben hat. Mit ein wenig Fantasie lässt sich leicht ausmalen, wie Kafkas Hand über die mittlerweile gelbstichigen Blätter geglitten ist. Seine lateinischen Buchstaben scheinen auf die Entfernung kaum lesbar, doch beim zweiten Blick schälen sich deutlich die Worte „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“ aus der Seite. Nur wenig hat Kafka durchgestrichen. „Die Geschichte wurde annähernd so aufgeschrieben, wie sie dann in den Druck kam“, sagt von Bülow.
Die Ansprüche, die von Israel an Marbach gestellt worden sind, bezeichnet er als haltlos. „Der Streit geht um den Nachlass von Max Brod, doch dazu gehört „Der Prozess“ gar nicht. Brod schenkte das Manuskript seiner Sekretärin Esther Hoffe. „Als Jurist hat er diesen Vorgang natürlich dokumentiert“, sagt von Bülow und zieht aus einem Stapel eine Kopie dieses Dokuments. Hoffe sei damit zum Verkauf berechtigt gewesen und das Deutsche Literaturarchiv nach der Ersteigerung vor 20 Jahren der rechtmäßige Besitzer.
Ein wenig erinnert die Situation an Kafkas Roman selbst. Irgendjemand, in diesem Fall vor allem eine israelische Tageszeitung, bringt etwas ins Rollen, was den Betroffenen kalt erwischt. „Auch uns hat das alles total überrascht“, sagt von Bülow. Beim Blick über Kafkas Schrift fällt nun der markante Strich über dem Buchstaben T auf. „Man sagt, dass das auf einen herrschsüchtigen Charakter hindeutet“, sagt von Bülow kopfschüttelnd. Das treffe bei Kafka aber nicht im Entferntesten zu.
Die Dokumente sollen auch künftig den Forschern aus aller Welt in Marbach zugänglich sein. Darin ist man sich auf der Schillerhöhe einig. Das Blatt wird wieder sorgfältig in die Glasvitrine gelegt und darin verschlossen. Gesprächsbereitschaft zeigt man in Marbach dennoch. Kürzlich hat Ulrich Raulff, Direktor des Literaturarchivs seinem israelischen Kollegen Shmuel Har Noy einen Brief geschrieben und ihn zu Gesprächen ermuntert. Die Antwort ist Raulff kürzlich auf den Tisch geflattert. „Wir werden nun sehen, ob es vielleicht sogar zu einem persönlichen Treffen kommt“, sagt von Bülow, bevor er die Vitrine wieder den Museumsbesuchern überlässt.
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