Von Johannes von der Gathen
Glückskinder sind sie alle nicht, die Frauen in den neuen, zart melancholischen Erzählungen des türkischen Autors Murathan Mungan. Viele leben allein, oder sind eingesperrt in eine freudlose Ehe, manche hängen sehnsuchtsvoll an Kindheitserinnerungen und gehen wie Fremde durch ihr eigenes Leben. Da reden Mütter und Töchter aneinander vorbei, oder haben sich längst aus den Augen verloren. Die Gegenwart scheint unsicher und fragil zu sein in einem Land, in dem sich alles ändert.
Mit seismographischer Genauigkeit erkundet der 1955 geborene Murathan Mungan die Seelenlandschaften seiner durchweg weiblichen Alltagsheldinnen und entwirft so nebenbei das Porträt eines Landes zwischen Tradition und Moderne. Mungan selbst hat kurdisch-arabische Wurzeln, bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und genießt im weltoffenen Istanbul als vielgelesener Autor von Romanen, Theaterstücken und Gedichten so etwas wie Kultstatus. In den Erzählungen, deren Schauplätze bis weit in die anatolische Provinz reichen, tauchen brisante Themen wie der Kurdenkonflikt oder der Völkermord an den Armeniern auf, aber Mungan wird nicht politisch abstrakt, es geht immer um die konkrete Lebensgeschichte.
Da findet eine Tochter bei einem Besuch kistenweise Fotos, die ihre mittlerweile an Demenz leidende Mutter in ihrer Jugend gemacht hat. Die verblichenen Aufnahmen üben eine starke Faszination auf die Tochter aus, die sich ganz in die Vergangenheit versenkt und bei ihrem Mann nur auf blankes Unverständnis stößt. Oder die lebenslustige Singlefrau Hayat, die wegen einer neuen Stelle in eine fremde Stadt zieht und dort gleich in der ersten Nacht in ihrer Wohnung stirbt. Die Nachmieterin Tülay fühlt sich danach magisch zu den wenigen Habseligkeiten der Verstorbenen hingezogen. „Vielleicht hatten auch die Dinge ein Herz“, resümiert der Erzähler, dem es tatsächlich gelingt, die Gegenstände zum Sprechen zu bringen: den Ledermantel eines Ex-Gatten etwa, einen Armreif aus Trabzon, Tabakballen in ländlicher Einöde oder die blühenden Bäume am Ufer des Bosporus.
Mungans traurige Protagonistinnen sind fast immer unterwegs, fahren zu Hochzeiten oder Beerdigungen, müssen zur Arbeit oder treten eine neue Stelle an. Die Frauen gehen auf Urlaubsreisen oder besuchen ihre Eltern, und einmal treffen sich zwei alte Freundinnen zufällig an einer Raststätte, und eine böse alte Geschichte tritt wieder zwischen sie. In der letzten der sechzehn Erzählungen begegnet der Leser diesen Heldinnen des Alltags noch einmal am Busbahnhof in Istanbul, ein Ort des Transits, an dem sich Schicksale und Hoffnungen kreuzen.
Literaturangabe:
MUNGAN, MURATHAN: Städte aus Frauen. Blumenbar Verlag, Berlin 2010. 350 S., 21,90 €.
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