FRANKFURT/MAIN (BLK) – Im März 2010 ist im Eichborn Verlag der Roman „Zehn“ von Andrej Longo erschienen.
Klappentext:
Jede Geschichte ein Schlag in den Magen. Jede Geschichte ein Stück Neapel. Jede Geschichte eine literarische Sensation. Andrej Longos brillante, wuchtige Erzählungen handeln von den Menschen der schönsten Stadt der Welt - und dem Griff der Camorra, der sie umklammert. Zehn Geschichten sind es, jede ist ironisch überschrieben mit einem der Zehn Gebote. Sie spielen in den Gassen Neapels, vor schmuddeligen Diskotheken, in engen Behausungen, und sie verwandeln menschliches Scheitern in große Literatur. Schnörkellos und schlaglichtartig, in authentischer und zugleich poetischer Sprache erzählt Longo von den Mechanismen, die Neapel regieren, von der Krankheit, die diese Stadt befallen hat - und von Menschen, die Gott und die Hoffnung längst verloren haben: Der Teenager, der aus Spaß einen alten Mann niedersticht. Der Vater, der weiß, dass die Camorristi ihn töten werden, aber dennoch mit seinem Sohn einen Vergnügungspark besucht. Der Sänger, der vor Mafiabossen auftritt und einen Pakt mit dem Teufel schließt.
Andrej Longo wuchs in Neapel auf und arbeitete u.a. als Pizzabäcker. Heute lebt er als Drehbuchautor vorwiegend in Rom und auf Ischia, doch sein Lebensthema bleibt Neapel. „Zehn“ ist sein erstes ins Deutsche übersetzte Buch. Sein neuer, gerade erschienener Roman „Sarahs Mörder“ ist in Italien bereits ein Bestseller. Der Autor ist Gewinner von fünf wichtigen italienischen Literaturpreisen. (ton)
Leseprobe:
©Eichborn©
Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben
Vanessa ist total hübsch. Mit schwarzen Nylons und ihrem Leder-Mini sieht sie aus wie eine richtige Frau. Wenn sie mit Lidstrich und High Heels loszieht, dreht sich jeder nach ihr um, obwohl sie erst vierzehn ist, und kichert wie ein kleines Mädchen. Ich sag’s ihr immer:
„Vanè, du siehst irre aus!“
„Bist wohl eifersüchtig“, sagt sie dann.
Klar bin ich eifersüchtig. Ist doch normal. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass sie zu auffällig ist, dass sie von Tag zu Tag schöner wird, und irgendwann passiert was, irgendwas, aber ich sag lieber nichts, sonst merkt sie, dass ich mir Sorgen mache.
Papilù, sei bloß vorsichtig. Papilù, sieh zu, dass du keinen Ärger machst. Um Himmels willen, Papilù, halt dich raus. Das lohnt sich doch nicht, Papilù, bist doch ’n anständiger Junge.
Wenn ich mich so umschaue, hab ich das Gefühl, dass ich ziemlich verantwortungsbewusst bin. Ich will nicht enden wie mein Vater, der jedes Mal wieder für drei Monate nach Poggireale wandert, kaum dass er einen Monat draußen ist. Ich geh zur Schule, bediene nachmittags in einer Bar und versuche, in nichts reinzugeraten, vor allem nicht mit den Typen von Giggino Mezzanotte, der hier im Viertel das Sagen hat und den sie Mezzanotte nennen, weil er das Nachtleben liebt.
Giggino Mezzanotte verehren sie wie einen Gott, kein Wunder, alle profitieren irgendwie von ihm: indem sie dealen, den Stoff verstecken, gefälschtes Markenzeug verkaufen, auf Baustellen oder in Putzkolonnen schuften. Wenn sich’s vermeiden lässt, will ich Giggino Mezzanotte nie im Leben um was bitten, denn einmal drin, bist du geliefert und hast keine Kontrolle mehr über dein Leben. Er entscheidet für dich, er sagt dir, was du tun darfst und was nicht, und wenn du dich nicht an seine Regeln hältst, lässt er dir ’ne Kugel durch den Kopf jagen, hundertpro. So läuft’s hier.
Ab und zu werfen sie dir ’n paar Krümel hin, um großzutun, um dich ruhigzustellen, dir einzureden, dass früher oder später ein normales Leben auf dich wartet. Und in der Zwischenzeit schaufeln sie sich Millionen aufs Konto, kaufen Motorboote und dicke Autos, verbarrikadieren sich in ihren abgeschotteten Villen und kümmern sich nur um ihren eigenen Kram, so machen die das, wie die Politiker, die schön daherreden und uns nach Strich und Faden bescheißen. Die sind sogar noch schlimmer, die denken nur an ihre Stimmen und wie sie alles zu Geld machen können. Manchmal, wenn’s zu viele Leichen sind und die Zeitungen drüber schreiben, schicken sie die Polizei, die verhaften fünf oder sechs, um uns das Gehirn zu vernebeln, und stehen dann im Fernsehen gut da, sie zeigen, dass sie besorgt sind. Aber sie sind nicht besorgt, ums Verrecken nicht. Wir sind denen scheißegal. Der Abschaum der Welt. Genau das sind wir. Abschaum.
Das Problem ist, mit siebzehn schaffst du es nicht mehr, Kaffee zu servieren und so zu tun, als wär nichts, sonst servierst du am Ende dein Leben lang Kaffee. Und das Leben wartet nicht auf dich und deinen Kaffee, vergiss es. Und du weißt nicht, was du machen sollst, du weißt einfach nicht weiter. Erst zwingst du dich, was Ordentliches zu lernen, dich aus allem rauszuhalten, aber es ist klar, dass du hier später keine Arbeit findest. Wenn ich zum Beispiel Automechaniker werden will. Wenn ich ’ne Werkstatt aufmache. Vielleicht schaff ich’s sogar, das Geld zusammenzukratzen. Und wenn der Laden offen ist, was passiert dann? Dann kommt einer und sagt: „Papilù, wenn du in Ruhe arbeiten willst, musst du mir soundso viel pro Monat geben.“ Jede Wette.
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Literaturangabe:
LONGO, ANDREJ: Zehn. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010, 160 S., 17,95 €
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