Werbung

Werbung

Werbung

Zensur in der Ukraine

„Das Maß an Intoleranz steigt“ durch das Wirken der Moralkommission

© Die Berliner Literaturkritik, 17.05.10

Von Wolfgang Jung

KIEW (BLK) - Fast 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion fürchtet die alternative politische Szene in der Ukraine eine neue Staatszensur wie zu Zeiten der UdSSR. Die Beschlüsse einer „Nationalen Moralkommission“ stoßen bei engagierten Künstlern und vielen Bürgern auf Empörung und Widerstand. „In Nordkorea oder im Dritten Reich mag so etwas normal sein, aber nicht in einer Demokratie“, schimpft etwa der Dramatiker Alexander Poderwjanski. Er hat mit zwei Kollegen einen scharfen Aufruf verfasst, in dem er gegen die „Vernichtung der Freiheit“ protestiert. Jedoch fürchten zahlreiche politische Künstler des Landes, dass der neue ukrainische Staatschef Viktor Janukowitsch eher die „Daumenschrauben weiter anziehen“ wird.

Seit einem Jahr ist die Moralkommission in Europas zweitgrößtem Flächenstaat besonders aktiv. Den Kinohit „Brüno“ des britischen Komikers Sacha Baron Cohen verbot das Gremium, weil die fiktive Geschichte eines schwulen Österreichers „die öffentliche Moral verletzen“ könnte. Auch der Spruch „Jeder Sex ist gut, wenn er geschützt ist“ einer Anti-AIDS-Kampagne fand keine Gnade bei dem Komitee. Eine Ausstellung des weltberühmten Londoner Künstlers Damien Hirst in Kiew wurde als „moralisch höchst bedenklich“ eingestuft. Und einem Fernsehsender wurde „wegen menschenverachtender Sprüche“ das Einstellen der US-Zeichentrickserie „Die Simpsons“ nahegelegt.

Der ukrainische TV-Star Irena Karpa ist entsetzt über die Schritte der Kommission. „Diese Idioten können sich den ganzen Tag Pornos ansehen und werden dafür auch noch bezahlt“, kritisiert die MTV-Moderatorin und Autorin. Für die alternative Szene der ehemaligen Sowjetrepublik sei dies „eine schreckliche Situation“. Ähnlich sieht es die Sängerin Ruslana Lyschitschko. „Eine solche Zensur ist in der heutigen Welt, in der es sowohl in Europa als auch im Internet kaum mehr Grenzen gibt, lächerlich“, sagte die 36-Jährige, die 2004 den Eurovision Song Contest in Istanbul gewann. Sie fürchtet weitere Einschränkungen unter dem neuen Staatschef.

„Er steht nicht für den Weg nach Europa, den die jungen Ukrainer gehen möchten“, sagte Lyschitschko. Sie hatte sich im Wahlkampf gegen den pro-russischen Janukowitsch engagiert. Der neue Staatschef sei „kein Mann der Kompromisse und Toleranz“, meinte die Sängerin. Die Moralkommission war 2003 gesetzlich verankert worden, als Janukowitsch Regierungschef war. Doch auch während der Amtszeit der pro-westlichen Kräfte der Orangenen Revolution zwischen 2005 und 2010 sei das Gremium aktiv gewesen, erinnert die Publizistin Jewgenija Belorussez. „Was auch immer die offizielle Rhetorik der ukrainischen Demokratie verkündete, der Zensurdruck wurde systematisch und offenbar“, kritisiert die Mitarbeiterin des Goethe-Instituts in Kiew.

Die Ukraine gilt im Vergleich zu zahlreichen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken als recht liberal. Im Unterschied zu vielen Ländern der Region waren Wahlen in dem Land in den vergangenen Jahren von unabhängigen Beobachtern als frei und fair eingestuft worden. Soviel Freiheit sei den Behörden wohl verdächtig, meint Wladimir Jaworski vom Helsinki-Komitee in Kiew. Die Moralkommission habe mehr als 7.000 Veröffentlichungen geprüft und 200 Strafprozesse angeregt, klagt der Leiter der Menschenrechtsorganisation. Wegen „Beschränkung der freien Meinungsäußerung“ verlieh das Helsinki-Komitee den Moral-Wächtern um den Mittfünfziger Wassili Kostizki den Antipreis „Distel des Jahres“.

Kritiker beklagen, dass auch zunehmend die ukrainische Subkultur ins Fadenkreuz der Prüfer gerät. So verfügte die Kommission das Einstampfen von 10.000 Exemplaren des Romans „Die Frau seiner Träume“ von Literatur-Staatspreisträger Oles Uljanenko wegen „zu viel Pornografie“. Und der ukrainische Blogger Alexander Wolodarski, der an der Universität in Erlangen-Nürnberg Informatik studiert, wurde während einer Demonstration gegen Staatszensur in Kiew festgenommen. Der Autor Sergej Schadan fürchtet ein „fatales Abgleiten der ukrainischen Gesellschaft nach rechts“. Auch ausländische Diplomaten kommentieren die Entwicklung sorgenvoll. „Das Maß an Intoleranz steigt“, meint eine westliche Diplomatin in Kiew.


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: