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Zu Tode flatternde Schmetterlinge

Herta Müllers Debüt „Niederungen“ in neuer Auflage

© Die Berliner Literaturkritik, 12.03.10

Von Peter Schulz

Manche Großstädter haben romantische Vorstellungen vom Leben auf dem Dorf. An den Wochenenden fahren sie gerne ins Haus aufs Land, um vor dem von Montag bis Freitag hektischen Leben im Büro zu fliehen, wo unbeirrt der Computer leer rauscht. Ihre Kinder, die sich wochentags auf einem künstlich angelegten Stück Boden ihr Territorium erkämpfen müssen, können am nahe liegenden See baden und auf der nur selten befahrenden Straße Ball spielen. Ihre Eltern empfangen derweil Freunde, genießen die Ruhe und grüßen ab und zu den Bauern, der mit seinem Traktor über das Kopfsteinpflaster poltert und mit emotionslosem Handheben zurückgrüßt. Der verträumten Sicht einiger Großstädter setzt Herta Müller ihr Buch „Niederungen“ entgegen, das jetzt vom Hanser Verlag neu aufgelegt wird – leider erst nachdem sie die höchste literarische Auszeichnung der Welt, den Nobelpreis, bekam.

Als das Buch 1982 in Bukarest erschien, begann die Securitate, die Geheimpolizei der Ceausescu-Diktatur, einen operativen Vorgang gegen Herta Müller, der fortgesetzt wurde, nachdem sie 1987 nach Deutschland übersiedelte. Was die Securitate dazu veranlasste, Herta Müller zu bespitzeln, war die in kurzen Texten beschriebene intellektuelle und moralische Beschränktheit der Bewohner eines Dorfes im deutschsprachigen Banat, das mit Nitzkydorf, dem Geburtsort Müllers, verglichen werden könnte. Das in „Niederungen“ dargestellte Dorfleben schildert ein phantasiebegabtes Kind, das auf sich zurückgeworfen ist, wenn es sich mit dem trostlosen Alltag und der Beschränktheit der Erwachsenen vergleicht. Nicht nur für das Kind ist die Rohheit, Macht und Gewalt der Eltern das Erschreckende, selbst unter den Erwachsenen gibt es kein respekt- und liebevolles Miteinander. Die Mutter selbst ist sich ihres unglücklichen Lebens schon früh bewusst, wenn sie ihrer Tochter die Hochzeit der Eltern schildert – wie der Vater die Mutter nicht berührte, nur Kirschkerne ausspuckte und sie zu jener Zeit schon ahnte, „dass er mich im Leben oft verprügeln wird“ und nicht den Mut aufbringt zu sagen „ich will nicht heiraten, aber ich sah das geschlachtete Rind, und Großvater hätte mich umgebracht.“

Auch die Großeltern gehören zum Ensemble des familiären Lebens und beeinflussen die Erziehung des Kindes. Die Fürsorge des Großvaters besteht darin, dem Kind einzureden, dass Ringelgras dumm mache, dass die Fliegen in den Akazienblüten es verstummen lassen. Die Großmutter, für die das Kind ebenso eine Belastung ist wie für die Mutter, findet kaum freundliche Worte. Die einzige Reaktion der Großmutter ist genervtes Interesse und hartes Zupacken. Wie selbstverständlich wird das Kind geohrfeigt, wenn es nach der dritten Aufforderung nicht ins Haus geht, um Mittagschlaf zu halten. Für die Eltern und Großeltern ist dieser Umgang alltäglich und das Kind selbst wird für schuldig erklärt, wenn es geschlagen wird; hätte es doch hören sollen auf die Anweisungen. Auch das schlechte Gewissen soll ihm in den Kopf steigen, das Eis beispielsweise hat es allein deshalb nicht verdient, weil es im Zug nicht still saß. Und das sensible, im Stich gelassene Kind fragt sich: „Und wen wird sie schlagen, wenn ich groß und stark geworden bin, wen wird es geben, der sich nicht wehren kann vor ihrer harten Hand?“

Die Gefühllosigkeit zwischen den Familienmitgliedern zeigt ihren Höhepunkt, wenn die Tiere geschlachtet werden, die mühsam über das Jahr aufgezogen worden sind. Mensch und Tier sind für das Kind nicht mehr zu unterscheiden und so, wie es von der Großmutter am Ohr gepackt wird, um gerügt zu werden, greifen sich die Erwachsenen die Flügel und Füße der Enten, zerren das Schwein mit Schreien und Hieben zum Schlachten.

So beschreibt Herta Müller in allen Texten das Leben im Dorf und die damit verbundene Schufterei der Bewohner, die dadurch jede geistige Herausforderung mit Skepsis betrachten. Die Nachbarin beispielsweise ist wertlos, weil sie nicht den ganzen Tag das Haus putzt, nicht den ganzen Tag auf dem Feld arbeitet, sondern „am hellen Tag Bücher lese“. Müller erzählt von dem Abgrund familiären Lebens, eben von der Mutter und Großmutter, für die Schlagen die einzige Erziehungsmethode zu seien scheint, von einem trinkenden Vater, der die einzig liebevolle Berührung zuzulassen scheint, indem er sich von dem Kind die Haare kämmen lässt, es jedoch sogleich wutentbrannt zur Seite stößt, wenn es sein Gesicht berührt. Das Kind „wusste in diesem Augenblick, daß ich keine Eltern hatte, daß diese beiden niemand für mich waren, und fragte mich, weshalb ich da in diesem Haus, in dieser Küche mit ihnen saß, ihre Töpfe, ihre Gewohnheiten kannte, weshalb ich nicht endlich von hier weglief, in ein anderes Dorf, zu Fremden und in jedem Haus nur einen einzigen Augenblick blieb, und dann weiterzog, noch bevor die Leute schlecht wurden.“ Aber wo soll das Kind hinlaufen? Die Situation in den Familien ist identisch, das Leben im Dorf ist bei jedem gleich, der Ablauf des Tages ist immer derselbe. Alle Bewohner stellen sich tagein, tagaus der körperlichen Arbeit auf dem Feld zur Verfügung und wenn die Arbeit getan ist, die Wohnung geputzt, die Tiere versorgt sind, dann merken sie für einen kleinen Augenblick, wie dürftig ihr Leben ist und die Frauen „stricken sich selber mit hinein in ihre Strümpfe aus kratziger Wolle, die immer länger werden und so lang sind wie der Winter selbst, die Fersen haben und Zehen und behaart sind, als könnten sie von alleine gehen“.

Doch alles Schreckliche hat gleichzeitig etwas Komisches, Satirisches und so zeigt sich neben dem leichten Kopfschütteln über das Leben des liebebedürftigen Kindes, der schlagenden Eltern und begrenzten Intelligenz der Dorfbewohner ein Lächeln, wenn man in dem Text „Das schwäbische Bad“ liest, wie an einem Samstagabend die ganze Familie in dem gleichen Badewasser badet und sie sich über dieses falsche Verständnis von Sauberkeit freuen. Gleichzeitig ahnt der Leser, wichtiger ist, dass die Fenster geputzt sind, die Gardinen weiß aus dem Haus blitzen und man sich mehr sorgt um das Gerede der so genannten Leute als um den Gedanken, ob sie frisch gebadet sind. In „Dorfchronik“ wird auf komische Art und Weise gezeigt, wie sich die Dorfbewohner eine eigene Sprache aneignen, auf dem Marktplatz werden nicht verschiedene Schweinerassen verkauft, sondern verschiedene Arten, das Gebäude des Volksrates wird als Gemeindehaus bezeichnet, der Bürgermeister scheint über alles zu urteilen und wird Richter genannt und der kleine Laden ist für die Dörfler nur das Geschäft, nicht die Konsumgenossenschaft. Wenn sie vom Ausland reden, dann wird nur vom Westen gesprochen.  Doch der so genannte Westen liegt in der Ferne, vielleicht noch in der Phantasie, die Realität ist die harte Arbeit auf den Feldern des Sozialismus, deren Ertrag dürftig ist. Aber sie plagen sich weiterhin ab auf den riesigen Äckern, deren Misserfolge aus den gegensätzlichen Aussagen der Ingenieure resultieren, denen ein Ressort zugesprochen wird, denen aber der Plan fehlt, um die Planwirtschaft durchzuführen.

All die Anstrengung dieses dörflichen Lebens, des herzlosen Familienlebens, der exzessiven  Feldarbeit wird beschrieben, ohne Wertungen, ohne Unerbittlichkeit, ohne etwas zu verurteilen oder jemanden auszuliefern. Herta Müller findet dafür eine lakonische und unprätentiöse Sprache und das Schweigen auf dem Feld ist zu spüren, die monotone, profane Arbeit ist vorstellbar. Manchmal erinnert das an die wunderbaren Bücher von Agota Kristof. Doch wenn sich das Kind seine eigene Welt herbeiphantasiert, um aus der Umgebung für einen kurzen Augenblick zu verschwinden, entfaltet Herta Müllers Sprache eine poetische Kraft, die tröstet. Das gewöhnliche Spielen auf dem Hof mit den Gegebenheiten der Natur wird zu einem existenziellen Erlebnis: „Wir jagen Kohlweißlinge mit zerbrechlichen Adern in den Flügeln. Wir warten auf ihren Schrei, wenn wir sie auf die Stecknadel spießen, doch sie haben keinen Knochen im Leib, sie sind leicht und können nichts als fliegen, und das reicht nicht, wenn es überall Sommer ist. Sie flattern sich auf der Nadel zu Leichen.“ Wenn der Großvater dem Kind erklärt, dass man stirbt, wenn eine Biene in den Mund fliegt, dann denkt das Kind Sätze wie diesen: „Nur manchmal bekam ich Lust zu singen. Ich biß die Zähne zusammen und zerdrückte das Lied. Es kam ein Summen über meine Lippen, und ich schaute mich um, ob nicht gerade wegen dem Summen eine Biene auf mich zukommt.“ So erdichtet sich das Kind mit jeder Geschichte seine eigene Welt, verdreht Aussagen und schafft sich seinen eigenen Ort.

Die Großstädter werden, wenn sie den Bauern das nächste Mal grüßen, einen anderen Blick bekommen auf das vermeintlich ruhige und erholsame Leben auf dem Land, das sie jedes Wochenende genießen. Einen eigenen Blick für dieses physisch auszerrende Leben hat Herta Müller gefunden, die vor mehr als zwei Jahrzehnten ein bestürzendes und zuweilen komisches, ein dichterisches, ein tröstendes, ein seltenes Meisterwerk geschrieben hat.

 

Literaturangabe:

MÜLLER, HERTA: Niederungen. Carl Hanser Verlag, München 2010. 176 S., 16,90 €.

 

Weblink: Hanser Verlag

 

 


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