Es sind nicht die spektakulären Ereignisse der West-Berliner Szene, wie der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg beim Schah-Besuch im Juni 1967 oder das Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968, die das Autorenduo von Rahden und Schlak in dem Band vorführt, sondern so unspektakuläre Begebenheiten wie zum Beispiel die Gründung und der Untergang des kleinen Merve Verlages. Überhaupt werden die meisten Nicht-Insulaner nicht verstehen, was es heißt, wenn der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott schreibt, dass „West-Berlin kein Ort [war], sondern ein Zustand.“
Eine Insel West-Berlin im Meer Osten, wohin man auch von der Insel weg wollte, war man von Osten umgeben, das an sich ist schon absurd. Das Kabarett Insulaner sang im RIAS: „Der Insulaner hofft unbeirrt, daß seine Insel wieder ’n schönes Festland wird“, was aber nur für die ersten Jahre galt, denn wie Andreas Hiepko in seinem Beitrag „Der Insulaner“ schreibt, assoziiert der deutschsprachige Mensch mit Insulaner einen Eiländer, der, meist in der Südsee, an einem Ort der Glückseligkeit lebt.
Für den Ostler war West-Berlin die absolute Glückserwartung, das Schaufenster des Westens, von außen, vom Meer her betrachtet; für den Westler war die Insel einfach teuer, sie lebte von seinen Subventionen. Auch trotz seiner obligatorischen (Zwangs-)Besuche konnte der Westler sich nicht wirklich vorstellen, dass man hier langfristig überleben konnte, also würde das Geld nur auf Zeit locker sein müssen. Er wurde unwirsch, als Honecker verkündete, dass die Mauer hundert Jahre stehen werde. Aber auch der West-Berliner glaubte mehr recht als schlecht an das Festland: 1964 wurde die RIAS-Sendung nach sechzehn Jahren eingestellt, drei Jahre nach dem Mauerbau.
Der West-Berliner kehrte sich nach innen. Von innen betrachtet, sah das so aus: „West-Berlin war kein Ort, sondern ein Zustand, Traumpotential in besonderer Verdichtung, Turbulenz auf einer Nadelspitze und erhöhte Temperatur als Dauerzustand. Geschlossene Gesellschaften – ob gewünscht oder erzwungen – neigen zur Exaltation nach innen: Forcierung der Temperamente, Pflege von Besonderheiten aller Art, Dramatisierung von Konflikten.“ Mattenklott nennt seinen Artikel „Transit ins wilde Denken“.
Der Historiker Heinz Dieter Kittsteiner, HD genannt, am 18.7.2008 plötzlich verstorben, schreibt in seinem Essay „Unverzichtbare Episode“, den er 1967 verfasst hat, dass er immerhin schon in Tübingen Ernst Bloch gehört hatte, was ihm den Zutritt zu dem überfüllten Seminar des Philosophen Hans-Joachim Lieber verschaffte. Lieber war in den Jahren vor der Studentenrevolte der Star der Westberliner Philosophie, bevor Jacob Taubes ihm die Beliebtheit bei den linken Studenten stahl. Wer den alten Taubes in den Jahren vor seinem Tode 1987 erlebt hat, versteht nicht, dass er einmal der Liebling der linken Intellektuellen war – war doch sein Spezialgebiet Paulus und Carl Schmitt, und er selbst nie ein Linker.
Auch Peter Gente, neben seiner verstorbenen Frau Merve der Begründer des Merve Verlags, wunderte sich bereits 1965, als er beim Auspacken von Taubes’ Bücherkisten Werke von Schmitt mit persönlichen Widmungen fand. In dem beim Merve Verlag 1987 herausgegebenen Band „Gegenstrebige Fügung“ gesteht der jüdische Eschatologe Taubes seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Antisemiten Schmitt.
Als Schöneberger ging Peter Gente mit seiner neuen Frau Heidi Paris in den „Dschungel“, Foucault und andere Poststrukturalisten im Gefolge. Aber auch die Neuen Wilden verkehrten hier: Rainer Fetting, Martin Kippenberger. Dieser gestaltet zum zehnjährigen Merve-Jubiläum eine großformatige Zeitschrift: „Schlau sein – dabei sein“. Das waren wir Insulaner. Sollen wir jammern, dass es vorbei ist, oder lieber wie der RIAS in einer gleichnamigen Sendung orakeln: „Damals war’s – Geschichten aus dem alten Berlin.“ Jedenfalls waren die Geschichten nicht nur absurd, sie waren anregend und keineswegs wirklichkeitsfremd – es war die Dritte Wirklichkeit Nachkriegsdeutschlands!
Von Jenny Schon
Literaturangabe:
VON RAHDEN, WOLFERT; SCHLAK, STEPHAN (Hrsg.): Die Insel West-Berlin. Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft II/4, Winter 2008. C.H. Beck Verlag, München. 12 €.
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