Wenn das kein Grund zum Feiern ist. „Lettre international“ wird zwanzig Jahre alt! Zwar sind im Lauf der Zeit einige der vielen nationalen Ausgaben der Zeitschrift, die der Tscheche Antonin J.Liehm 1978 in Paris gründete, wieder eingestellt worden – es gibt nur noch fünf, und darunter ist keine französische mehr – aber die deutsche unter der Leitung von Frank Berberich blüht und hat sich im Lauf dieser Jahre zu einer der wichtigsten deutschsprachigen Kulturzeitschriften entwickelt. Viermal im Jahr erscheinen die großformatigen Hefte, die zu lesen es dieselbe Zeit braucht, wie die, ein umfangreiches Buch zu studieren.
International ist „Lettre“ geblieben; im Jubiläumsheft, der Nummer 81 (mit 250 Seiten fast doppelt so umfangreich wie ein normales Heft und unmöglich im vorliegenden Rahmen erschöpfend zu würdigen), treten 41 Fotografen, 43 Künstler und 62 Autoren aus allen Kontinenten auf. Fast alle Fotografien sind vorzüglich und passend ausgesucht, da können die Künstler meist nicht mithalten, von deren Grafiken sind nur wenige gut, darunter das provokative Titelbild von Baselitz und die Lithos und Aquarelle von Barceló, Cahn, Clemente und Neumann; womöglich setzt die Drucktechnik Grenzen obschon das Papier besser geworden ist.
Fast alle „Künstler, Dichter, Denker“, die sich hier zur „Lage der Welt“ äußern – meist wohl vom Herausgeber eigens dazu aufgefordert – sind sozusagen „alte Freunde“, die schon vorher an der Zeitschrift mitgearbeitet haben, für ein vergleichsweise geringes Honorar und mit umso größerer Anteilnahme, können sie doch sicher sein, auf diesen Seiten „Gleichgesinnten“ zu begegnen, die ungeachtet sehr verschiedener Meinungen am gleichen Projekt arbeiten, dem, die heutige Welt besser verstehen zu lernen. „Ort und Funktion des Intellektuellen in einer sich transnational figurierenden Welt müssen immer neu erfunden werden“, schreibt Berberich in seinem „Grußwort an die Leser“. Er steht zu einem „kritischen Kosmopolitismus“ und fragt: „Welchen Umwälzungen sind wir heute ausgesetzt? Lieben wir das Leben noch? Können wir noch überschauen was geschieht?“
Die Antworten, so vielfältig sie auch sein mögen, sind ernüchternd: Viele große Nein und nur gelegentlich ein kleines Ja. Es gibt wenig Gründe zur Hoffnung und viele, die sich sehr ernsthaft zu sorgen. Diese Bilanz, wenn es denn eine ist, macht erschrecken. Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit von „lettre“, das nicht zu verschweigen. Auf Derek Walcotts Hymnen an Licht und Natur und eine kurze Story von Alexander Fuller –, die mit sanftem Humor von Leuten am Sambesi erzählt: „’Trinken wir ein Gläschen’, sagte Dad. Er schenkte zwei Brandys ein und stieß mit Mum an. ‚Auf den Anfang vom Ende’, sagte er. ‚Den Anfang vom Ende’, sagte Mum.“ – folgt gleich eine Kant-Paraphrase von Friedrich Dieckmann, die dessen skeptischen Optimismus mit preußischer Anstrengung aufrecht zu halten sich bemüht.
Doch wohin kommen wir damit? Denn „Der Mensch, die Krone der Schöpfung, das Schwein“, wie ihn Benn noch am Anfang des 20. Jahrhunderts bitter triumphal beschwor, hat als erste Kreatur in seiner (gemessen am Erdalter) sehr kurzen Geschichte, die reale Möglichkeit, sich selbst und den Rest auszulöschen und die Welt den Insekten zu überlassen. Dies ist der basso continuo fast aller Beiträge, auch wenn sie sich dem „Untergang“ – nicht nur des Abendlandes – zu widersetzen trachten.
Ob Slavoj Zizek „Haiti als Symptom“ einer ausweglosen Situation charakterisiert oder Elizabeth Rubin als „embedded journalist“ (und gleichwohl kritisch) beschreibt, welche Verheerungen der Einsatz amerikanischer Truppen in Afghanistan im Land und in denen anrichtet, die ihn, dorthin befohlen von einem unberatenen Präsidenten, leisten müssen; ob Mark Danner den „Krieg gegen den Terror“ für gescheitert erklärt oder Rafael Sanchez Ferlosio immerhin versucht, die verschiedenen Arten von Krieg durch säuberliche Unterscheidungen durchsichtiger, also vielleicht vermeidbarer zu machen – immer bleibt da ein schlimmes Fragezeichen. Zu spät?
Oder zu früh, wie es die schaurigen Erfahrungen des chinesischen Dissidenten Lao Yiwu nahelegen? Sicher zu früh für eine Wende in der birmanischen Geschichte, wie Emma Larkin erklärt, und noch ziemlich weit bis zu einer in Kuba. (Antonio José Ponte) Selbst die Analyse eines Sektors der Armenfürsorge, die Linda Polman am Beispiel von Sierra Leone vornimmt, ist nichts anderes als eine Warnung vor dilettantischen Helfern, die alles nur schlimmer machen. Arg auch, wie Andrew Jennings das „Internationale Olympische Komitée“ als eine Bande von Korrupten und Unfähigen porträtiert. Der Sportjournalist würde ihnen am liebsten mit einer Schrotflinte zuleibe rücken. Was nützen da noch schöne Verse, wie die von Patrizia Cavalli (oder Durs Grünbein, dem „Klassizisten“, wie er sich selbst nennt), was Vincenzo Consolos Hinweise auf eine Zeit, als die Muslime im Mittelmeerraum die waren, die antike Kultur bewahrten, angesichts der Fluchtbewegungen in die „Festung Europa“, die darauf nur mit Lagern antwortet?
Moral als Beschwörung, von Nimrod, dem in Amiens lebenden Philosophen aus dem Tschad, als Zuspruch des Koreaners Ko Un, der sich und uns mit orientalischen und europäisch-antiken Beispielen trösten will: „Das Leben wird durch den Tod neu“.
Ob Tzvetan Todorov für aktive Toleranz plädiert, Constantin von Barloewen für die Pluralität der Kulturen, Vyung Chul Han für „flaches Geld“ als Antidot gegen den entfesselten Kapitalismus und Bora Cosiæ die „beste aller Welten“ parodiert: was Soziologen und Kulturwissenschaftler zu sagen haben, ist zwar in der Analyse oft triftig, aber es setzt jeweils ein Umdenken der korrupten „Eliten“ und der chloroformierten Massen voraus, von dem weithin nichts zu sehen ist.
Und Hannes Böhringer nimmt gar einen Rat aus Altvätertagen an: „Wenn ich ein Herz habe, habe ich alles, was ich brauche. Wer ein Herz hat, hört auf, ein Einzelner zu sein“. Aus dem sanften und ach so gutwilligen Rauschen erhebt sich die Stimme von Jean-Pierre Faye, der in einer Art Requiem auf das von ihm einst angestoßene, inzwischen in den Mühlen bürokratischer Prozeduren fast verendeten Projekt einer „Europäischen Forschungsuniversität“ unversehens übergeht in eines auf zwei Frauen: Katherine Mosche und Sophie Scholl, die beide ermordet wurden: es ist die Stimme eines Alteuropäers, der noch etwas von Widerstand weiß.
Er ist auch der älteste der Autoren, während die meisten anderen im Alter zwischen 40 und 60 Jahren sind: jung genug, um noch aktiv zu sein, zu alt, um noch Illusionen nachzuhängen. Es gibt noch einen zweiten Beitrag in diesem Jubiläumsheft, der ob seiner erbitterten Inständigkeit die Schwelle der Resignation überschreitet: Michail Ryklins Nachdenken über den Freitod seiner Frau Anna Altschuk. Ryklin hat jahrelang in „Lettre“ eine Kolumne aus Moskau geschrieben, Altschuk wurde dort angeklagt, weil sie an einer Ausstellung „Achtung Religion!“ beteiligt war: beide hatten in Putins von der Orthodoxie gesegneter Diktatur nichts mehr zu suchen, die Lyrikerin nichts mehr auf dieser Welt. Sie nahm sich in Berlin das Leben.
Die Beiträge zur modernen Ästhetik (Olga Sedakowa, Yang Lian, Pascal Dusapin, Michel Onfray Juan Goytisolo und Boris Groy) fügen rezenten Diskussionen Bedenkenswertes hinzu.
Dann geht es wieder zur Sache: die Autoren, die sich mit den Naturwissenschaften einlassen, sind an der Reihe. Der Astronom Steven Weinberg entführt uns ins Universum mit der Versicherung, dass das sichere Ende der Erde erst in Millionen Jahren zu erwarten steht und sucht nach einer Weltformel, von der er doch weiß, dass sie für jene, die die Erde bis dahin bewohnen werden (wenn überhaupt) nur von geringem Nutzen wäre. Am Ende sind wir, die Menschen, so Michael Epstein, nur das „Protoplasma“ der technischen Revolution, die allemal noch gefährlicher ist, als es alle politischen Umwälzungen sind. Wenn Martin Rees dann über die Verantwortung der Naturwissenschaftler schreibt, so weiß er, dass diese, insofern sie den Planeten verändern, über „größere Macht“ verfügen werden als heutige Terroristen.
Keine schönen Aussichten, nirgends. Auch die Forscher in ihren Laboren, die Informatiker vor ihren Bildschirmen bleiben sowohl Täter als auch Opfer einer „Lage“, in die sich die Menschheit gebracht hat, als sie in kaum zweihundert Jahren die Erde nachdrücklicher veränderte, als in den davor liegenden vielen tausend Jahren. Dass man, nach der deprimierenden Lektüre dieses dicken Heftes, nicht in eine tiefe Depression verfällt, das ist das Geheimnis von „Lettre“, denn wenn etwas uns aus der Klemme hilft, so sind es die Erfahrungen und Erkenntnisse einer auch über sich selbst aufgeklärten Aufklärung: die weit geöffneten Augen sehen mehr, vielleicht auch einmal den Streifen am Horizont. Dass die Zeitschrift nicht aufhören wird, ihn zu suchen, muss man ihr wünschen. Wir brauchen sie, auch wenn der Satz „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ inzwischen einen etwas schalen Geschmack bekommen hat. Also: auf die nächsten zwanzig Jahre!
Literaturangaben:
Lettre International 81, deutsche Ausgabe. Herausgegeben von Frank Berberich. Lettre International Verlagsgesellschaft, Berlin 2008. 250 S., geheftet, 17 €.
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