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Zwei, die zusammen gehören

Weitere Überarbeitungen der Werke Walter Benjamins und Siegfried Kracauers

© Die Berliner Literaturkritik, 15.01.10

Von Roland H. Wiegenstein

„Nachdem versäumt ward, ihn nach Deutschland zurückzuholen, wo der gegen Ideologien Gepanzerte nach dem Krieg unendlich viel Gutes hätte wirken können, gelang es, trotz zahlreicher Neudrucke und Publikationen, in Deutschland nicht, jene Kraft so sichtbar werden zu lassen, wie es recht gewesen wäre. Man erwähnt ihn als Soziologen und Kulturkritiker aus den Zwanziger Jahren, wohl auch als einen Mann, der zu den damals avancierten Intellektuellen zählte, doch ohne dass man den Inhalt seiner Werke einstweilen voll absorbiert hätte.“ So Theodor W. Adorno in einem Nachruf (FAZ, 30.11.1966) auf seinen lebenslangen Freund Siegfried Kracauer (1889-1966), der kurz zuvor in New York gestorben war. An diesem traurigen Befund hat sich seitdem (!) nicht sehr viel gerändert.

Kracauer stammte aus einer bürgerlichen jüdischen Familie in Frankfurt, und verbrachte seine Jugend im Haus seines Onkels Isidor, einem Geschichtslehrer am „Philanthropin“. Von 1907-1913 hatte er Architektur studiert und 1914 mit einer Doktorarbeit in den Ingenieurswissenschaften promoviert. Aber statt bei der Architektur (einer in diesen Jahren brotlosen Kunst) zu bleiben, begann er zu schreiben und wurde 1922  - nach der Veröffentlichung von „Soziologie als Wissenschaft“ - Film- und Literaturredakteur bei der „Frankfurter Zeitung“, die ihn 1930 nach Berlin entsandte. Dort schrieb er 1925  „Der Detektivroman“ und (für die FZ ) zahlreiche Kritiken und Essays. Mit „Die Angestellten“, einer soziologischen Studie (publiziert 1930), die etwa von Benjamin enthusiastisch aufgenommen wurde, wurde er berühmt. 1928 erschien, zuerst anonym, der Roman „Ginster“. Nach dem 30. Januar 1933 wurde er von der FZ nach Paris geschickt, dann entließ ihn die Zeitung. Für einen den Kapitalismus kritisierenden Juden war kein Platz mehr in der Redaktion (und in Deutschland). Er blieb in Paris, arbeitete an einer Offenbach-Biografie, aber erst nach einer Internierung 1939 in Frankreich gelang ihm 1940 die Flucht über Lissabon nach Amerika. Dort arbeitete er in verschiedenen „odd jobs“ innerhalb des Wissenschaftsbetriebs, wurde von Stiftungen unterstützt, vor allem von der 1945 gegründeten „Bollinger Foundation“, die die mäzenatische Familie Mellon gegründet hatte und gab Vorlesungen an verschiedenen Universitäten, die ihm nach und nach sein Auskommen sicherten.

Nach Einzelausgaben begann 1971 in Deutschland eine erste auf fünf (später acht) Bände erweiterte Gesamtausgabe seiner „Schriften“ zu erscheinen. Das Echo in der deutschen Öffentlichkeit blieb, abgesehen von der „Angestellten“-Studie und seinen beiden Büchern „Von Caligari bis Hitler“ und der „Theorie des Films“, die eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Film begründeten und bis heute als Standardwerke gelten, gering. Zu disparat erschien sein Werk, zu gewagt manche seiner Thesen, zu seltsam sein zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen changierender Stil. So war diese erste Ausgabe ein Wagnis: es machte mit dem Denken eines Mannes vertraut, der in keine Schublade recht passen wollte, erst in den Achtziger Jahren erschien der letzte Band. Umso anerkennenswerter das seit 2004 vom Suhrkamp Verlag unternommene Projekt der Herausgabe einer auf 13 Bände angelegten, kritisch kommentierten Ausgabe der „Werke“. Es soll  2010 abgeschlossen werden, und enthält Vieles, was der erste Herausgeber Karsten Witte nicht kannte oder aussonderte.

Wie wichtig diese Ausgabe wirklich ist, erfahren wir etwa im Band 4, das Kracauers letztes Buch „Geschichte – Vor den  letzten Dingen“ enthält. („vor“,keinesweg „von“ – von Heilsgeschichte wollte er nichts wissen.) Hatte dieses Buch in der ersten Ausgabe lediglich 270 Seiten, so sind es in der vorliegenden Fassung 655. Dabei blieb der Text stehen, Änderungen an der Übersetzung von Karsten Witte gibt es nur vergleichsweise wenige ohne wirklichen Belang. Aber Ingrid Belke hat, unter Mithilfe von Sabine Biebl, den ganzen Komplex des „Geschichts“-Buchs aufgearbeitet, auch die nach Kracauers Tod Fragment gebliebenen Kapitel ergänzt und dem Band den enorm wichtigen Text einer 1966 in Lindau stattgefundenen Diskussion über „Das Ästhetische als Grenzerscheinung in der Historie“ hinzugefügt. Das war eine einwöchige Veranstaltung der von H.R. Jauß geleiteten interdisziplinären Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“, auf der sich Kracauer zu Wort meldete. Auch Paul Otto Kristellers Vorwort zur Ausgabe der „Schriften“ ist im vorliegenden 4. Band aufbewahrt, die einiges von der Komplexität Kracauers deutlich macht: „Da er in mehr als einer akademischen Disziplin wohl gebildet war, gehörte Kracauer zu keiner einzigen Disziplin oder zu einem speziellen Beruf… Er war Philosoph, Soziologe, Historiker und vor allem Kritiker und Schriftsteller. Im Rückgriff auf viele verschiedene  Quellen gelang es ihm, diese seine eigenen originellen Denkweise anzupassen… Er zeigte sich desinteressiert und misstrauisch gegenüber rigiden Systemen und Methoden und war bemerkenswert immun gegen Modeströmungen und Kompromisse.“ Wie sehr, dass belegen die über 300 Seiten „Nachbemerkungen“ der Herausgeberinnen, die nicht nur die wissenschaftliche Karriere des Autors in allen Facetten darlegen, sondern die sparsamen, diesmal am unteren Seitenrand gedruckten Anmerkungen Kracauers wiedergeben. Belke und Biebl haben mit einer erstaunlichen Anstrengung alles zusammentragen, was zu diesem letzten Buch gehört. Die beiden Wissenschaftlerinnen geben eine stringente Übersicht über die Wandlungen der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten, und sie beschreiben in präzisen kurzen biografischen Anmerkungen all die Autoren, die Kracauer gelesen und erwähnt hat. Nicht nur, dass diese Arbeit gerade jüngeren Lesern die nötigen Informationen über die vermittelt, die in einer vergangenen Zeit wichtig waren. Sie zeigen ein weiteres: welch unermesslichen Verlust Hitlers Vertreibung der Intellektuellen (der Juden unter ihnen zumal) der europäischen Geistesgeschichte zugefügt hat. Hier wird eine Ehrenpflicht eingelöst. (Merkwürdig nur – und auch wieder verständlich – dass der im Text erwähnte Martin Heidegger keinen besonderen Eintrag erfährt: sollte er allen Lesern genügend bekannt sein? Ich habe nur einen Druckfehler darin gefunden: Dilthey ist nicht 1888 geboren, sondern 1833.)

Das Buch „Geschichte – Vor den letzten Dingen“ wird Kapitel für Kapitel ausführlich und einleuchtend analysiert und damit Kracauers zwischen den Disziplinen mäandernde Denkweise getroffen. „Geschichte“ das war für ihn – als Historiographie begriffen – etwas, das ihn sein Lebtag indigniert hat. Eine „Lösung“ hat er dafür nicht gefunden, aber seine Skepsis gegenüber der „Universalgeschichte“ und der Widerspruch zwischen der am einzelnen Faktum erforschten „Mikro-Geschichte“ und der „Makro-Geschichte“ blieb unvermittelt. Umso spannender, wie er sich abmüht an dem Vergleich zwischen der Geschichtswissenschaft und dem Film, wie er Parallelen zieht zu Großaufnahme und Totale der Filmsprache und dem, was ihn an Geschichte interessiert. Er wollte die „transzendentalen“ von den „immanentistischen“ Auffassungen unterscheiden. „Die ersteren stellen ein Reich absoluter Wahrheiten und Normen in den Mittelpunkt, das sie von allem, was nur zeitlich ist, abtrennen und unterscheiden. Doch büßt diese Unterscheidung – die darüber hinaus besagt, dass das Absolute von höherer Bedeutung als das Zeitgebundene und Relative ist – ihre Bedeutung ein, sobald die paradoxe Natur der Zeit erst einmal erkannt ist. Andererseits saugt den Immanentisten zufolge das Zeitliche das Absolute so vollständig auf, dass es möglich scheint, die zeitbedingten Wahrheiten selbst zu verewigen. Wird aber die Zeit nicht mehr als ein kontinuierlicher Fluss begriffen, ist auch diese Lösung unhaltbar.“

Ein Satz wie dieser (dessen Essenz auch in der Lindauer Tagung zum Gegenstand einer so heftigen wie klugen Debatte wurde), zeigt die ganze Schwierigkeit der Kracauer-Lektüre. Man sieht dem Verfasser sozusagen die Verfertigung der Ideen unterm Schreiben (und Lesen – er war ein unermüdlicher Leser) an, die Lust und Qual noch „Unlösbares“ dennoch auf den Begriff zu bringen. Und dies mit stilistischen Mitteln, die dem Kritiker, ja Feulletonisten zur Verfügung standen. Er saß doppelt „zwischen den Stühlen“ als Autor und strenger Wissenschaftler und als Emigrant, der englisch schrieb – und deutsch dachte. Nicht umsonst gehören zwei Schriftsteller zu den wichtigen Referenzfiguren des „Historikers“, der vor den letzten Dingen steht: Kafka und Proust.

Gleichwohl ist dieses letzte Buch Kracauers eine Fundgrube von (unsystematischen) Einsichten, wie überhaupt sein ganzes umfangreiches Werk es verdient, ausführlicher, das heißt auch kritischer rezipiert zu werden. Die neue, gute Ausgabe bietet dazu eine Gelegenheit – auch für jüngere Philosophen, Soziologen und Historiker.

„Es ist, als habe Benjamin mit Absicht die vielen ihm zugänglichen Aspekte in dem Band veröffentlicht, um die diskontinuierliche Struktur der Welt auch von dieser Seite her zu erhärten. Was die Gesamthaltung der Einbahnstraße betrifft, so zeigt die Summe der Aphorismen bewusst das Ende der individualistischen, naiv-bürgerlichen Epoche an... Er verzeichnet weder den Eindruck irgendeiner Gestalt, noch lässt er sich je mit dem herrschenden abstrakten Denken ein.“ So Kracauer in der „Frankfurter Zeitung“ vom 15.7.1928. Er rezensiert darin das beinah gleichzeitige Erscheinen von Benjamins literaturwissenschaftlicher Studie „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (die als Habilitationsschrift nicht angenommen wurde!) und des Aphorismenbandes „Einbahnstraße“. Diese, im Umschlag mit einer avantgardistischen Photomontage versehenen Meditationen, Notizen, Träume sollte dem Kritiker Benjamin, der selbst in der FZ gelegentlich auftauchte, ein breiteres Publikum sichern. Dies immerhin ist, wie zahlreiche zeitgenössische Rezensionen belegen, gelungen.

Walter  Benjamin (1892-1940), der Sohn aus gutem Berliner Haus, ist inzwischen zu einer beinah mythischen Figur der Moderne geworden: in vielen Einzelausgaben (und Übersetzungen) seiner Bücher, einer unübersehbar gewordenen Serie von interpretierenden Studien wurde er als einer der wichtigsten deutschen Denker der ersten Jahrhunderthälfte beschworen. Es gibt eine Walter-Benjamin-Gesellschaft und in Port Bou, dem Ort seines Selbstmordes 1940, gibt es von Dani Karavan ein grandioses Denkmal: eine durch den Fels geschlagene, nach unten führende Treppe, an deren unterem Ende man ins Wasser des Mittelmeers stürzte, wäre dieser Ausgang nicht durch eine Glasplatte geschlossen, auf der ein Benjamin-Zitat steht.

Inzwischen streiten Gelehrte und Ungelehrte darüber, wie er denn auszulegen wäre, materialistisch-marxistisch oder rabbinisch-kabbalistisch: für beide Zugänge gibt es Belege genug. Er ist auch zur Symbolfigur geworden, weil sein ungesichertes Leben als an der Borniertheit der Universitäten gescheiterter Dozent, als „freier Schriftsteller“, nach Paris emigrierter Verfolgter und bei der Flucht nach Amerika an der französischen Grenze Aufgehaltener das Leben nicht mehr ertrug. Lauter gute Gründe für eine sammelnde Ausgabe seiner „Schriften“, die seit 1972 im Suhrkamp Verlag erschien und erst 1989 abgeschlossen wurde. Auf 7 Bände ausgelegt, mit „Teilbänden“ und Nachträgen auf 15 angewachsen, bildete sie die Grundlage wissenschaftlicher Arbeiten, ehe sich der Verlag zu einer ab 2008 publizierten, ausführlicher kommentierten, kritischen, auf einundzwanzig Bände berechneten neuen Gesamtausgabe von „Werken und Nachlass“ entschloss. Sie soll 2010 abgeschlossen werden, bislang sind drei Bände erschienen. Vorausgegangen war von 1995-2000 die sechsbändige Sammlung seiner „Briefe“. Am Ende wird der komplette Corpus seiner Arbeiten vorliegen.

Der bereits erschienene Band 8, herausgegeben von Detlev Schöttker (mit Steffen Haug) enthält „Einbahnstraße“, vermutlich das am weitesten verbreitete  Benjamin-Buch. Es umfasst in der Erstausgabe von 1928  83 Seiten, in den „Schriften“ 129, in der neuen Werkausgabe 610, wobei der Text der Erstausgabe als erster Teil (mit zahlreichen Lesarten – bis hin zu eingefügten oder (meist) weggelassenen Kommata – wiedergegeben wird. Dem folgt die „Nachtragsliste“ mit weiteren, meist längeren Stücken, wiederum kommentiert, und danach kommen alle Entwürfe und Fassungen und der übliche kritische Apparat.

Zu seinen Lebzeiten galt „Einbahnstraße“ als weithin aphoristisches Buch, aus dem sich etwa dieser unter dem Rubrum „Für Männer“ abgelegte Satz „Überzeugen ist unfruchtbar“ ebenso gut zum Zitieren eignete wie etwa unter „Kurzwaren“ die Behauptung „Die Tötung des Verbrechers kann sittlich sein – niemals ihre Legitimierung“ oder unter „Ankleben verboten“ und seiner Unterabteilung zur Technik des Kritikers die Behauptung „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“ (für Marxisten) oder „Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet“ (für hartgesottene Leser.)

Benjamin, der „Flaneur“, der er zeitlebens leidenschaftlich war, imaginiert sich eine Einbahnstraße (sozusagen die Idee aller Straßen), geht sie ab, notiert die Schilder (meist Werbung) und benutzt sie als Ausgangspunkt für seine Reflexionen, die oft vom gewählten Titel weit abzuweichen scheinen, dem Nachdenklichen aber einen zusätzlichen, häufig ironischen Hinweis geben. Es gibt in diesem Buch wirklich kurze Aphorismen, aber auch längere, wiederum unterteilte Essays zu dem was ist – und was sein sollte, wobei ihm und uns manchmal die Luft wegbleibt, manchmal, wie dem von ihm geliebten „Angelus novus“ (einem Blatt von Klee in seinem  Besitz), dem „Engel der Geschichte“, der Sturm des Paradieses im Rücken weht und er – der Engel – die Vergangenheit (die er ja sieht)  als Katastrophe erlebt, der Sturm aber sei – so Benjamin -:„was wir Fortschritt nennen“. Tiefer Pessimismus, klare Einsichten und eine romantische Sehnsucht nach Erlösung (eine Eschatologie des Verborgenen, wie sie auch Adorno in den „Minima Moralia“ beschwor). All das findet sich auf der Einbahnstraße, wenn man nur ihrer Richtung folgt und sich dabei aufhalten lässt.

Behauptungen, die der Leser selbst verifizieren (oder für sich falsifizieren) muss, Widersprüche und großartig tiefsinnige Sprüche finden sich hier. Dass sie nun, in der neuen Ausgabe zureichend erklärt werden, dass man vieles über das erratische Zustandekommen des Buchs und der „Nachtragsliste“ erfährt (einiges daraus konnte Benjamin noch in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen, vieles ist nur als Manuskript erhalten), das ist das Verdienst der „Werke“, die den „ganzen Benjamin“ vor Augen stellen, ohne dass wir nun genau wüssten, was es mit diesem enigmatischen Traumtänzer und scharfsinnigen Kritiker wirklich auf sich hatte. Gerade dies macht seine fortwährende Anziehung aus, der nicht nur Kracauer, der von der Geschichte Zurückgesetzte, erlag. Die beiden kannten sich gut. Sie gehören zusammen.

 

Literaturangabe:

KRACAUER, SIEGFRIED: Werke. Bd. 4: Geschichte vor den letzten Dingen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 655 S., 54 €.

 

 

 

 

 

 

 

Literaturangabe:

BENJAMIN, WALTER: Werke. Bd. 8: Einbahnstraße. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 610 S., 34,80 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag

 

 


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