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„Die große Katastrophe“

Der britische Historiker Norman Davies über den Zweiten Weltkrieg

© Die Berliner Literaturkritik, 30.11.09

Von Rudolf Grimm

Je mehr Zeit verstreicht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, desto mehr scheint die Komplexität des Kriegsgeschehens aus dem Blick zu geraten. Jedes beteiligt gewesene Land hat seine eigene Version, rückt seine eigene Rolle in den Vordergrund. Das Blickfeld ist verengt, die Erinnerung zunehmend bruchstückhaft, die Kriegsgeschichte wird politisch instrumentalisiert und von nationalen oder Partikularinteressen beherrscht. In der Geschichtswissenschaft gibt es eine von der Westfront inspirierte „westliche Sichtweise“ und eine von der Ostfront inspirierte „sowjetische Sichtweise“.

Der britische Historiker Norman Davies verfolgt angesichts der so von ihm beschriebenen Situation in seinem jetzt auch in deutscher Ausgabe mit dem Titel „Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939-1945“ vorliegenden Buch (Original 2006) „nicht in erster Linie das Ziel, spektakuläre neue Fakten zu präsentieren, sondern möchte vielmehr bekannte Fakten, die bislang streng getrennt voneinander betrachtet wurden, neu ordnen, gegeneinanderhalten und wieder in das historische Bild integrieren“. Das umfassende Werk widmet sich Kriegführung und Politik, Leben und Tod der Soldaten und von Zivilisten sowie Darstellungen in Geschichtsschreibung, Medien und Künsten.

Ein „Kernproblem“ bei der Beurteilung des Kriegs sind nach Auffassung des Autors die ungewöhnlich weit verbreitet gewesenen Verbrechen. Das ganze Ausmaß sei erst lange danach offenbar geworden. Erst seit einem Jahrzehnt könne die sowjetische Vergangenheit richtig mit der besser bekannten NS-Vergangenheit verglichen werden. Eine unparteiische Darstellung der Verbrechen habe als ein Haupthindernis auch eine psychologische Dimension, schreibt er. „Es wird bis heute vergrößert durch die Abneigung westlicher Historiker, dem Ruf der alliierten Koalition zu schaden.“

Zum Fazit des alliierten Siegs über Deutschland gehört nach Davies' Darstellung: Die Sowjetunion verdient die größten Lorbeeren – „Aber trotzdem - und dies ist das zentrale Paradox - war Stalin, der Hauptsieger, selbst ein Massenmörder und ein blutrünstiger Tyrann.“ Die Befreier von Auschwitz seien Diener eines Regimes gewesen, das noch größere Konzentrationslager betrieb als das, welches sie befreiten. Und der Krieg in Europa habe nicht nur mit der Niederlage des Dritten Reichs geendet, sondern auch mit einem militärischen Patt zwischen den gemeinsamen Siegern und mit einer erneut aufgezwungenen totalitären Tyrannei in der sowjetischen Hälfte Europas.

Hinsichtlich der Verbrechen verzeichnet der Autor auch, dass die Deutschen bereiter gewesen seien als die Russen, die eigenen einzugestehen und zu sühnen.

Die Flächenbombardements der westlichen Alliierten in Deutschland werden von Davies zwar nicht unter Verbrechen registriert, doch setzt er sich kritisch mit der „faulen Ausrede“ vom „Kollateralschaden“ auseinander. Riesige Bomberflotten von tausend und mehr Flugzeugen seien ausgeschickt worden, „um ganze Städte auszulöschen, von denen im voraus ganz genau bekannt war, dass die große Mehrheit ihrer Einwohner unschuldige Zivilisten waren. Die zivilen Todesfälle waren daher in keiner Weise zufällig oder kollateral.“

Für die größte moralische Empörung sorgen nach Davies' Urteil das geballte Ausmaß und die Vielfalt des Leidens von Zivilisten während des Krieges. „Der Holocaust war in Plan und Ausführung einzigartig, und auf sein Konto geht der Tod von fast sechs Millionen Unschuldigen. Doch er war nicht außergewöhnlich, was das Ausmaß und das Leid betraf. Er ist eingebettet in einen größeren Kontext, in dem drei- oder viermal so viele Unschuldige umkamen. Der Historiker hat die Pflicht, sich an sie alle zu erinnern.“

Sehr eindruckvoll schildert er, wie Menschen den Krieg erlebten oder wie sie starben, namentlich genannte einzelne wie auch Massen - in Konzentrationslagern, als Zwangsarbeiter, als Vertriebene und „Umgesiedelte“, Flüchtlinge, Soldaten im Kampf und in Gefangenschaft. Den vergewaltigten Frauen gilt ein eigenes Kapitel.

Literaturangabe:

DAVIES, NORMAN: Die große Katastrophe. Europa im Krieg 1939-1945. Droemer Verlag, München 2009. 847 S., 36 €.

Weblink:

Droemer Verlag


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