München (BLK) – Im Mai 2010 veröffentlichte der Scherz Verlag den Roman „Zwischen allen Wolken“ von Michael Gantenberg.
Klappentext: Es ist Frühling auf Nördrum in der Nordsee. Die Abiturientin Gesa muss sich entscheiden, ob und warum sie die Insel endlich mal verlassen will. Da stürzt ihr Bruder aus sehr heiterem Himmel mit seinem Fallschirm ab. An diesem todtraurigen Tag verändert sich alles: Gesas Vater flieht, ihre Mutter schenkt nach Wochen der Trauer all ihre Liebe einer Ente namens Jean-Pierre, auch Tante und Oma benehmen sich maximal merkwürdig. Und Gesa muss in diesem Sommer ein paar fette Wolken beiseite schieben, um so erwachsen zu werden wie nötig und so glücklich wie möglich. Ein wundersamer Roman über eine junge Frau und ihre schräge Familie, über Sommer und Abschied, die erste große Liebe, über die Treue der Enten und das Lachen der Sandflöhe.
Michael Gantenberg (geboren 1961) war WDR-Radiomoderator, Gastgeber des Satiremagazins „Extra 3“ und schrieb u.a. für DIE ZEIT und die FAZ. Für die RTL-Komödie „Ritas Welt“ erhielt er den Grimme-Preis und den Deutschen Fernsehpreis. Er entwickelte „Alles Atze“ und „Nikola“ und schrieb als TVAutor für den „Großen Deutschtest „ (mit Hape Kerkeling) und die Krimireihe „Unter Verdacht“. Im Jahr 2009 erschien sein Romandebüt „Neuerscheinung“. Michael Gantenberg lebt mit seiner Familie in der Nähe des Sauerlandes. (ton)
Leseprobe:
©Scherz Verlag©
„Weißt du, dass der Tod das Tor zum Leben ist?“
„Keine Ahnung.“
„Ist so, Schwesterchen.“
„Nenn mich nicht immer Schwesterchen. Ich bin neunzehn,
kein Baby mehr. Außerdem will ich jetzt nicht darüber
sprechen.“
„Sonst willst du immer.“
„Jetzt aber nicht.“
„Gesa?“
„Ja.“
„Vermisst du mich eigentlich?“
„Doofe Frage.“
„Für mich nicht. Also?“
„Manchmal.“
„Manchmal?“
„Oft!“
Die Antwort schien ihm zu gefallen, wir schwiegen, ohne dass es gleich peinlich wurde. Er nahm mich in den Arm, und es war fast schon wieder so wie früher. Doch dann unterbrach er das Schweigen.
„Der Tod ist das Tor zum Leben, Gesa. Echt.“
„Wilko? Du redest so geschwollen wie mein Lateinlehrer.“
„Ich red’ nicht geschwollen, ich red’ wie immer.“
„Eben! Geschwollen!“
„Von mir aus, red’ ich eben geschwollen. Fakt ist – der Tod ist das Tor zum Leben.“
„Okay, wenn du es sagst. Ich glaub’s nicht. Der Tod ist das Ende, hundertpro. Die Liebe ist das Tor zum Leben. Die Liebe, ganz sicher. Hoffe ich …“
„Wenn du meinst?“
Wilko stand auf und jagte davon, ungestüm, federnd, schnell, wie immer.
„Wer zuerst an den Dünen ist!“
Ich hatte es aufgeben, ihn im Wettlauf zu den Dünen besiegen zu wollen. Früher waren es nur die drei Jahre Altersunterschied und eine Menge Muskeln, die Wilko an Stellen hatte, die bei mir nur für zukünftige Hautdellen vorgesehen waren. Jetzt war es was anderes. Vielleicht was Metaphysisches, ganz sicher war ich mir nicht.
Wilko lag schon auf dem Rücken und starrte in den knallblauen Himmel, während die Insel durch die Sirene der ankommenden Fähre lautstark auf neue Gäste vorbereitet wurde. Ich schmiss mich neben ihn, noch völlig außer Atem, und fragte mich, wie er es schaffen konnte, schon wieder so entspannt im Sand zu liegen, während ich noch keuchend und nach Luft schnappend den völlig untrainierten Dünenstürmer gab.
„Erster!“, prahlte Wilko grinsend mit einem leicht arroganten Zug um die Lippen.
„Ja, toll, super.“
„Sei mal still.“
„Was?“
„Hörst du’s?“
Wilko legte sein rechtes Ohr auf den maiwarmen Sandboden und hob dabei den Zeigefinger, als ob es dann für alle leichter wäre zu hören, was er zu hören vorgab.
„Wilko, was?“
„Das Lachen. Man hört es. Das Lachen der Sandflöhe. Ganz deutlich.“
Nur um ihm einen Gefallen zu tun, legte auch ich mein Ohr auf den Sandboden. Das Lachen der Sandflöhe hörte ich nicht.
„Ich hör’ nix.“
„Doch, du musst dich konzentrieren.“
„Ich hör’ nix.“
„Das wirst du noch lernen, Schwesterchen.“
„Nenn mich nicht immer …“
Bevor ich den Satz beenden konnte, war Wilko wieder verschwunden.
Ich heiße Gesa Petersen und lebe auf Nördrum. Noch immer. Das war nicht geplant, ganz bestimmt nicht. Ein ganzer Sommer ist vergangen, seitdem mein Bruder gestorben ist, und jetzt kann ich endlich darüber reden. Ich habe über vieles nachgedacht. Über die Umstände, die zu seinem Tod führten, über Zeichen und Hinweise, die vielleicht wichtig waren, vielleicht aber auch nicht. Manche Menschen glauben, dass es ihnen besser geht, wenn sie alles wissen und die letzten Fragen und Zweifel geklärt haben. Ich glaube, manchmal ist es besser, wenn man nicht alles weiß. Mir geht es jetzt jedenfalls kein bisschen besser. Einiges hätte ich lieber nicht erfahren. Manche Dinge sieht man klarer, wenn man sie aus der Distanz betrachtet. Wenn sich die Trauer abgewaschen hat. Wenn die dunklen Gedanken endlich mal wieder ein bisschen Licht vertragen. Wenn der Soundtrack des Lebens von Moll auf Dur wechselt.
Ich habe beschlossen alles aufzuschreiben. Die Rätsel, die Geheimnisse, die Vermutungen, die Irrungen und Wirrungen und wie sich alles um mich herum verändert hat. Meine Eltern, meine Oma, meine Tante und ihr Mann, Piet und all die anderen, die in diesem Sommer eine große Rolle spielten.
Mein Leben hat sich radikal gedreht. Unfassbar. Unerwartet.
Eigentlich wollte ich diese Insel verlassen. Für immer, direkt nach dem Abitur, aber ich sitze noch immer hier in meinem Zimmer, das ich bewohne, seit ich denken kann. Ein gemütlicher Mix aus Schwedenmöbeln und den ausrangierten Klassikern meiner unmittelbaren Verwandtschaft. Ein abgewetztes Cordsofa, Rattantischchen, diese Richtung.
Komisch, das hier ist das einzige Zimmer im ganzen Haus, in dem sich nichts verändert hat. Muss wohl so sein.
Der Blick zum Meer ist einzigartig, aber wenn man ihn schon hat, seit man aus dem Fenster schauen kann, verliert auch so was irgendwann an Faszination. Das Meer halt – mal ist es da, mal nicht. Ebbe und Flut sind auch nichts, was einen täglich hinter dem Ofen hervorholt.
Mein Zimmer liegt im ersten Stock und ist wirklich passabel, auch wenn links und rechts von mir die Pensionszimmer liegen. Früher waren hier nur die älteren Urlauber untergebracht oder kinderlose Paare, das hielt den Geräuschpegel auf einem sehr erträglichen Maß. Alte Menschen machen keinen
Krach, sie regen sich nur drüber auf. Und die Jüngeren, die zu uns kamen, waren ziemlich verzweifelt. Wer verzweifelt ist, ist selten laut.
Unsere Pension heißt Möwennest und unsere Insel Nördrum – liegt zwischen Norderney und Baltrum, kennt kaum einer. Mich stört das nicht, kommen noch genug Touristen.
Am Anfang des Sommers sogar immer mehr, seit meine Oma diese Sache da fast schon professionell machte. Ein Jahr vor Wilkos Tod hat sie einem kinderlosen Paar aus einem Kaff auf dem Festland Nachkommen versprochen, wenn sie mit ihr eine sehr „spezielle“ Wattwanderung machen. Und es hat geklappt.
Seitdem kommen ständig neue Paare mit dem gleichen Wunsch. Oma gibt ihr Bestes, vor allem, seit sie im Mittelpunkt einer kleinen Fernsehreportage stand, die sie sich mindestens einmal am Tag auf einem steinalten Videorekorder anschaut.
Für Nördrumer Verhältnisse war Oma zwischenzeitlich ein richtiger Star. Bekannt in der ganzen Republik, zumindest bei kinderlosen Paaren, die sich ein Ticket nach Nördrum gekauft haben. Merkwürdig, dass ich ausgerechnet jetzt erst nur über meine Oma spreche. Obwohl – liegt bestimmt daran, dass ich sie am leichtesten verstanden habe von allen.
Seit Wilkos Tod hatte Oma Insa mehr zu tun als je zuvor. Rein geschäftlich war sie sogar richtig aufgeblüht und ohne ihre kompromisslos schwarze Trauerkleidung, die sie nur zum Fernsehen ablegte, wirkte sie beinahe schon wieder lebensfroh. Oma Insa schaute nur in ihrem Bademantel mit dem schrecklichen Rautenmuster und dem seit Kriegsende ausgefransten Saum fern, während sie ihre Füße in einem alten Schmorbratentopf badete.
Den Bademantel trug sie nicht etwa aus Gründen der Bequemlichkeit, sondern weil sie der Meinung war, dass es die im Fernseher nichts angehe, wie sie ordentlich angezogen aussieht, und dass ihre Trauerkleidung erst recht nur für die Insulaner und ihre Gäste bestimmt sei und eben nicht für die Veranstalter dieses fürchterlichen Abendprogramms.
Ab acht Uhr abends verpasste meine Oma seltsamerweise keine Sekunde dieses fürchterlichen Abendprogramms, und zwar nur um einen Grund zu haben, sich dar über aufzuregen. Konsequentes Handeln war ihr so fremd wie Grunge, überteuerte Skaterklamotten oder der regelmäßige Besuch beim Gynäkologen auf dem Festland.
Ärzte waren ihr generell suspekt, selbst Tante Nele, die immerhin ihre eigene Tochter ist, durfte ihr ärztliches Wissen nicht an ihr anwenden. Einmal in ihrem Leben hatte ein Arzt meine Oma falsch behandelt und damit den Grundstein für ihren generellen Ärzteboykott gelegt. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, konnte ich durch das kleine Küchenfenster beobachten, wie meine Oma mit einem kleinen Handbohrer und einem noch kleineren Handspiegel versuchte, ein kariöses Loch in einem ihrer noch vorhandenen Backenzähne so aufzubohren, dass eine erbsengroße, frisch vermengte, feucht glänzende Gipskugel darin Platz finden konnte. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob ich das wirklich so gesehen habe oder einfach nur sehen wollte. Erzählt habe ich es auf jeden Fall allen und bei den meisten meiner
interessierten Zuhörer mächtig Respekt für meine Oma geerntet. Enkelin einer solchen Frau zu sein bedeutete auf Nördrum einiges. Vor allem bei den Vier- oder Fünfjährigen, die meistens nur über ganz normale Großeltern verfügten.
Ich kann gar nicht aufhören, über Oma Insa zu schreiben, ich hab so viel mit ihr erlebt. Sie hat mich so oft überrascht, und sie hat die ersten Geheimnisse des Lebens für mich gelüftet, bevor es andere tun konnten. Aber ich muss mich jetzt zwingen, alles der Reihe nach zu erzählen. Es fällt mir schwer,
aber danach wird’s mir besser gehen.
©Scherz Verlag©
Literaturangabe:
Gantenberg, Michael: Zwischen allen Wolken. Scherz Verlag, München 2010. 336 S., 14,95 €.
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