Es war einmal. Aber wie lange mag das her sein? 10 Jahre, 100 Jahre, 1000 Jahre? Da lag im fernen Osten der auf ewige Zeiten eingerichteten k.u.k. Monarchie, dort, wo die „fähschähn“ Wiener Leutnants in ihren geputzten, blitzenden Uniformen dem frommen Glücksspiel und der edlen Hurerei verfielen, dort lag zwischen den Ufern des Pruth und dem vorderen Fuße der Karpaten eine märchenhafte Stadt mit dem magischen Namen Czernowitz. Die Menschen, die dort lebten – und dort lebten viele Menschen, im Jahre 1890 waren es fast 77.000, darunter viele Deutsche (zumeist Juden), Rumänen, Russen, Polen, Ruthenen und drei Bayern – und diese Menschen sagten zu den Fremden, die sich vor dem Gasthaus Schwarzer Adler am Ringplatz 3 oder dem Hotel Métropole in der Rathausstraße 9 mit spitzen Fingern den Kot von den Schuhen wischten: „Aber dies bitten wir freundlichst in Betracht zu ziehen, dafür liegen bei uns in Czernowitz Märchen und Mythen in der Luft.“ Und das war nicht gelogen.
In Czernowitz, der Hauptstadt des österreichisch-ungarischen Kronlandes Bukowina, wurde Rose Ausländer am 11. Mai 1901 als Rosalie Ruth Scherzer geboren. Sie stammte aus einer deutschsprachigen jüdischen Familie. Ihr Vater arbeitete als Prokurist, ihre Mutter kam aus Berlin.
Im Ersten Weltkrieg musste die Familie aus Czernowitz fliehen, wo Rose Ausländer eine glückliche Kindheit verbracht hatte. In Wien besuchte sie die Germinal-Handelsschule und absolvierte eine Lehre in einem Handelsgewerbe. 1919 kehrte die Familie nach Czernowitz zurück, das nach dem Untergang Österreich-Ungarns zu Rumänien gehörte. Dort studierte Rose Ausländer Philosophie und Literatur.
Nach dem Tod des Vaters siedelte sie 1921 mit ihrem Studienfreund und späteren Ehemann Ignatz Ausländer (die beiden waren von 1923 bis 1930 verheiratet) in die USA über. In der Jahresanthologie des „American Herold“ erschienen ihre ersten Gedichte. Von 1931 bis 1933 lebte sie wieder in Czernowitz, dann bis 1940 in Bukarest. Als sie im Sommer 1940 nach Czernowitz zurückkehrte, wurde sie vom sowjetischen Inlandsgeheimdienst verhaftet. 1941 marschierten deutsche Truppen in Czernowitz ein. Im Ghetto der Stadt, wo sie den Lyriker Paul Celan kennen lernte, überlebte sie den Holocaust. Von den 55.000 Czernowitzer Juden wurden 5o.000 ermordet.
1946 ging Rose Ausländer erneut in die USA, wo sie in verschiedenen Berufen tätig war. In dieser Zeit schrieb sie ihre Gedichte ausschließlich in englischer Sprache. Sie hielt sich mehrmals in Europa auf. 1957 traf sie in Paris mit Paul Celan zusammen, der auf die Entwicklung ihrer Lyrik entscheidenden Einfluss hatte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Wien ließ sie sich 1965 in der Bundesrepublik nieder, wo sie von 1972 an im Nelly-Sachs-Haus der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf lebte. Rose Ausländer, von 1978 an bettlägerig, starb am 3. Januar 1988 in Düsseldorf. Sie wurde auf dem jüdischen Friedhof in Düsseldorf beigesetzt.
Rose Ausländer wurde für ihr literarisches Werk mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Sie erhielt unter anderem den Meersburger Droste-Preis (1967), den Andreas-Gryphius-Preis (1977) und den Gandersheimer Literaturpreis (1980). Zudem wurde sie 1984 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. Sie gehört zu jener Generation deutschsprachiger Autoren, die erst im Alter Anerkennung für ihr literarisches Werk erfahren haben.
1939 gab Rose Ausländer unter dem Titel „Der Regenbogen“ ihren ersten Gedichtband heraus. Obgleich die in der Mehrzahl konventionell verfassten Gedichte den Einfluss anderer Dichter wie Friedrich Hölderlin, Georg Trakl und Itzig Manger verraten, erkannte der Wiener Kritiker Karl Kraus darin "die Spuren einer starken Begabung". Ihre New-York-Gedichte werden häufig mit den zu gleicher Zeit entstandenen Amerika-Gedichten Bertolt Brechts verglichen – nicht ohne den Hinweis, dass Rose Ausländers Texte ein weitaus feineres Gespür für das soziale Elend und die Härte des Alltagslebens aufweisen.
Erst unter dem Einfluss von Paul Celan, mit dem Rose Ausländer 1957 in Paris zusammentraf, kam es zu einer radikalen Änderung im Schreibstil und der Form ihrer Lyrik. Erstaunlich schnell fand sie Anschluss an die literarische Moderne. Dem Korsett von Reimschema und Metrik entschlüpft, wandte sie sich langzeiligen freien Versen zu und scheute auch vor formalen Experimenten nicht zurück. Sie schreibt vorwiegend von der verlorenen Heimat, dem Elend im Ghetto und der Zeit im Exil.
Rose Ausländer hat in ihrem Leben fast 3.000 Gedichte verfasst. Darunter befinden sich viele Widmungs- und Porträtgedichte, unter anderem an Marc Chagall, Georg Trakl, Nelly Sachs und Käthe Kollwitz. Dazu kommen fast 100 Prosatexte, zahlreiche Essays und journalistische Beiträge. Zu ihren bedeutendsten Publikationen gehören die Lyrikbände „Blinder Sommer“ (1965), „36 Gerechte“ (1967), „Mein Atem heißt jetzt“ (1981) und „Der Traum hat offne Augen“ (1987). „Am Ende hat Rose Ausländer, der Sprache sich hingebend, den Deutschen ein Wortkunstwerk geschenkt, wie es stärker im Ausdruck, feiner in der Form und präziser in der Aussage kaum zu denken ist,“ würdigte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die Dichterin.
Heute liegt Czernowitz in der Ukraine, ungemütliche 250 Kilometer südöstlich von Lemberg. Es gibt dort Fabriken, Kindergärten und Bestattungsinstitute. Von Jahr zu Jahr kommen mehr Besucher aus Westeuropa und den USA in die Stadt. Sie stehen vor Museen, Dichterhäusern, Theatern (manchmal treten sie auch ein), und wenn sie jünger als achtzig sind, der Tumor nicht allzu schmerzhaft aus der Axilla drückt und gerade die Sonne scheint, dann begeben sie sich zu einer Lesung in den Auenwald. Die Besucher aus dem Westen kommen nach Czernowitz, um nachzusehen, was aus all dem geworden ist. Die Vielvölkerstadt, die Mythen und die Märchen – aller Wahrscheinlichkeit nach wird davon nichts mehr vorhanden sein. Das war einmal. Wenn es überhaupt jemals gewesen ist. Und auch die Menschen, die dort lebten und den Fremden von den atmosphärischen Wunderlichkeiten ihrer Stadt erzählten, gibt es nicht mehr. Die haben ihre Gräber längst schon – in der Luft. In Auschwitz. Majdanek. Sobibór. Und anderswo.