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Zwischen Boxkampf, Diktatur und Avantgarde

Romane der argentinischen Autoren Roberto Arlt und Martín Kohan

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 05.04.07

 

Der Ich-Erzähler Silvio Astier, der in Roberto Arlts Roman „Das böse Spielzeug“ auftritt, ist zu Beginn seiner Geschichte vierzehn, am Ende sechzehn Jahre alt. Es ist die Geschichte eines aufgeweckten Jungen aus Buenos Aires verelendeter Mitttelschicht zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.<?XML:NAMESPACE PREFIX="O" NS="urn:schemas-microsoft-com:office:office" /=">

Silvio treibt sich herum, begeht Diebstähle, versucht gar (vergeblich) seine Schule in die Luft zu sprengen, er arbeitet bei einem Antiquar, versucht in die Armee zu kommen, verkauft Papier en gros und plant schließlich mit dem Herumreiber „Hinkefuß“ den Einbruch bei einem reichen Architekten, überlegt es sich anders, verpfeift seinen Kumpel und fühlt sich als „Verräter“ auf einmal frei: „Alles versetzt mich in Staunen. Bisweilen ist mir, als wäre ich vor einer Stunde auf die Erde gekommen und alles sei neu, flammend, schön.“ Der Verrat an dem einzigen Menschen, der so etwas wie ein Freund war, entfernt Silvio aus allem, was ihm bis dahin selbstverständlich war, er wird in den Süden gehen – und arbeiten.

Die Pariser Existenzialisten

Diese krude Geschichte entstand 1926. Ihr Autor Roberto Arlt (1900-1942), Sohn eines preußischen Vaters und einer Triestiner Mutter, die nach Argentinien ausgewandert waren, arbeitete als Journalist, schrieb täglich eine Zeitungskolumne und verfasste Romane und Theaterstücke, ohne doch je mehr als das gerade Notwendige zum Leben zu verdienen.

„Die Mischung aus Demütigung und Humor ruft nach einem verstörten, unbehaglichen Lachen. Das unbefriedigte Verlangen erscheint in verschiedenen Aspekten des Buchs, aber immer als sekundärer Aspekt; die wahre sittliche Schule Astiers ist das Verbrechen. Die vier Episoden des Romans schildern die Erkundung des Bösen als Weg der Transzendenz.“ So Juan Villoro im Nachwort zur deutschen Ausgabe des Buchs.

Es wäre als eine lateinamerikanische Variation von Themen bei Dostojewski (Raskolnikow) und Nietzsches „neuer Moral“ kaum mehr als eine Kuriosität (freilich eine, die lange entstand, bevor sich die Pariser Existenzialisten mit dem Thema des Verrats so inständig auseinandersetzten), wäre seine stilistische Qualität nicht so überzeugend: Arlt bedient sich zwar, wie es uns die Übersetzerin Elke Erb mitteilt, eines (kaum übersetzbaren) Sprachfundus aus dem „Lunfardo“, dem Dialekt der großstädtischen Unterschicht, aber eben nicht nur, die Reflexionen seines Helden entsprechen in keiner Weise dem Erkenntnisstand eines Halbwüchsigen, sie sind vielmehr gescheit, verdreht, hoch gebildet, seine Sinneseindrücke schildert er in sorgsam gewählten Worten

In den Fängen eines bösen Geistes

Silvio ist nur eine Maske, die sich der Autor vorhält. Seine Orts- und Personenbeschreibungen sind präzis und häufig von großer poetischer Schönheit, die Wendungen der Geschichte auf überraschende Pointen hin angelegt. Arlt düpiert die Leser, die sich gerade dazu entschlossen haben, für diesen kleinkriminellen, unordentlichen, phantasievollen Jungen Sympathie zu empfinden, mit einem brutalen, bösen Schluss, in dem Silvio, seinen ekstatischen Bekundungen zum Trotz, als fragwürdiges Subjekt erscheint. Manchmal wirkt dies Buch, als sei da einer von Robert Walsers komischen Träumern in die Fänge eines bösen Geistes geraten.

Zu verstehen ist diese seltsame und reizvolle Art, eine Geschichte zu erzählen (und im Erzählen gleichsam ständig zu dementieren) nur aus der gesellschaftlichen und politischen Unruhe, die Argentinien seit je bestimmt hat und die während Arlts Lebzeiten zu Putschen, bald wieder beseitigten demokratischen Strukturen und einer fortschreitenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten geführt hat. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 hat dem unruhigen Land dann den Rest gegeben.

Arlt hat dies in zwei weiteren Romanen: „Die sieben Irren“ und „Der Flammenwerfer“, die 1931 und 1932 erschienen sind, auf eine wahnwitzig komische Weise beschrieben: die „Irren“ nämlich, Außenseiter der Gesellschaft und Käuze allesamt, planen ihre eigene „Revolution“, die sie durch die Errichtung von Bordellen finanzieren wollen. Auch hier gibt es Verrat, gar Mord und am Ende des zweiten Bandes erschießt der Held Erdosain, Chemiker von Beruf, seine hässliche Frau und sich selbst: keine Revolution. Selten wurde die Vergeblichkeit einer politischen und gesellschaftlichen Anstrengung so gründlich und grotesk höhnisch verlacht, wie in diesen Büchern. Dagegen war er erste Roman buchstäblich ein Kinderspiel.

Die Mühen der Ebene

Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die lateinamerikanische Literatur auch hierzulande als eine von bedeutender Modernität entdeckt wurde: der große Borges, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar, Juan Carlos Onetti, Lezama Lima, Alejo Carpentier, Joāo Guimarez Rosa, Pablo Neruda, Carlos Fuentes, Mario Llosa und viele andere übersetzt und viel gelesen wurden, hat der Insel Verlag auch die beiden langen Romane Arlts veröffentlicht.

Aber die Begeisterung für die unglaublich lebendige, „barocke“ Vielfalt dieser Literatur eines Kontinents legte sich bald wieder: So lange blutige Diktatoren (in Argentinien von Peron bis Videla) dort herrschten, waren lateinamerikanische Intellektuelle – und die Bevölkerungen dieser von Spannungen und Widersprüchen zerrissenen Länder – en vogue. Seit dort aber Linksregierungen verschiedenster Couleur (vom großsprecherischen Venezolaner Hugo Chávez bis zur nüchternen Chilenin Bachelet und dem, zwischen Mut und Zögern schwankenden derzeitigen argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner) versuchen, virtuell reiche, durch eine schamlose Clan- und Klientelpolitik ruinierte Staaten mühsam wieder zu befrieden, hat das Interesse deutlich nachgelassen: Die Mühen der Ebene sind nicht so spannend.

Arlts „Böses Spielzeug“ war ein Vorspiel – aber dieser kurze Roman macht begreiflich, warum alles so wurde, wie es ist. Er ist ein Vorreiter des großen literarischen Aufbruchs Lateinamerikas in die Neuzeit, der bis heute nachwirkt, auch wenn seine großen Helden fast alle schon tot sind. Vielleicht sollte es der Verlag auch noch einmal mit den „Sieben Irren“ und dem „Flammenwerfer“ versuchen: Es würde sich lohnen.

Kohans Verwirrspiel

Der 1967 geborene Argentinier Martín Kohan gehört nicht nur zeitlich einer anderen Generation an, als die Heroen der lateinamerikanischen Literatur, seine Art zu schreiben ist grundlegend anders als die der großen Vorgänger. Waren diese modern, so fällt es bei Kohan nicht schwer, ihn zur „Postmoderne“ zu rechnen. Sein Roman „Sekundenlang“, der 2005 in Buenos Aires erschien, erwähnt zwar mehrfach Julio Cortázar, mit dessen experimentellen Texten es in der Tat eine gewisse Verwandtschaft gibt, aber sein Buch hat dennoch mehr mit dem Kino, etwa Robert Altmanns „Short Cuts“ zu tun, als mit einem chronologisch erzählten Roman.

Vielmehr verwirrt Kohan den Leser zunächst gründlich. Was haben die Streitgespräche von Ledesma und Verani, dem Feuilleton- und dem Sportredakteur einer kleinen Zeitung in Trelew, einer Provinzstadt weit südlich von Buenos Aires, mit dem geradezu mythischen Boxkampf zu schaffen, der im September 1923 zwischen dem amtierenden Weltmeister Jack Dempsey und seinem argentinischen Herausforderer Luis Angel Firpo stattfand, den dieser nur dank der Tatsache verloren hat, dass der Schiedsrichter Gallagher Dempsey falsch angezählt hat? Was haben Richard Strauß und Gustav Mahler mit einem Mann zu tun, der sich 1923 (am Tag des Boxkampfes in New York) in seinem Hotelzimmer in Buenos Aires aufgehängt hat?

Das Verwirrspiel, das Kohan erst anrichtet und dann langsam auflöst, (man erfährt zum Beispiel den Vornamen des Ich-Erzählers Roque, nämlich Alfaro, erst auf Seite 234), bringt scheinbar siriusweit voneinander entfernte Ereignisse in einer Weise zusammen, die zunächst dem paradoxen mathematischen Theorem zu gleichen scheint, dem zufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings in Peking in Europa ein Erdbeben auslösen könne, und nicht nur dies. Es wechselt in längeren und kürzeren Absätzen auch zwischen drei Zeitebenen: dem September 1923, als am 24. dieses Monats der Boxkampf in New York stattfand und um die gleiche Zeit eine Konzerttournee der Wiener Philharmoniker in Buenos Aires Station machte, bei der Richard Strauß dirigierte und neben eigenen Werken auch Gustav Mahlers 1. Symphonie aufführte; dem Juli 1973, als Ledesma und Verani über Artikeln brüten, die sie für eine Sonderausgabe ihrer Zeitung zu deren fünfzigjährigem Bestehen im September schreiben sollen: Ledesma hat sich das Mahler-Konzert ausgesucht, Verani den Boxkampf, der alle Argentinier aufregte, weil sie ihren Matador um den Sieg gebracht sahen.

1990, als Roque versucht, das was 1923 und 1973 geschah – und immer noch unverbunden nebeneinander steht – aufzulösen, sich aus der Provinzposse des ewigen Streits zwischen dem materialistischen Verani und dem gebildeten Ledesma (der seinem Kollegen vergeblich etwas über Mahler beizubringen versucht), ein veritabler Kriminalfall entwickelt. „Das Einbrechen des Allervulgärsten in die Sphäre höchster Sublimierung war ihm einzig und allein als Katastrophe vorstellbar“, räsonniert Roque.

Alles hat mit allem zu tun

Kohan knüpft sein Netz immer dichter. Er benutzt Zeitlupenschilderungen von enervierender Präzision (gleich als müsste er den „Noveau Roman“ noch einmal erfinden), um das Geschehen am Boxring zu beschreiben, in das er sowohl den Ringrichter Gallagher als auch den Fotografen Donald Mitchel mit ihren Lebensgeschichten einbezieht. Mitchell stand 1923 am Ring, er sollte den Kampf mit der Kamera dokumentieren.

Der Autor behandelt in weit größerem Tempo sowohl die Vermutungen der Figuren über das, was sich zugetragen haben könnte und Roques Recherchen nach der Wahrheit, schiebt immer wieder die gebildeten und absurden Dialoge über Mahlers und Strauß’ Beziehung ein, erwähnt beiläufig sogar Politisches: die „gute alte Zeit“ unter dem Präsidenten Alvear (1923) und die nicht so guten unter Perón. Aber da halten sich die Protagonisten bedeckt, es bleibt bei beiläufigem Gerede.

Es gelingt Kohan von Kapitel zu Kapitel besser, den Leser zu fesseln: Schließlich will man wissen, wie er aus den „Cuts“ herauskommt und seine so witzige wie vertrackte Geschichte zu Ende bringt. Das gelingt ihm mit überraschenden Kapiteln am Ende, deren Nummern er mit Ausrufezeichen versieht, als ginge es darum, den Zählvorgang im Ring zu wiederholen. Alles hat wirklich mit allem zu tun: das Konzert, der Boxkampf, der Tote im Hotel.

Die parodistische Begabung dieses Autors ist so wenig zu übersehen, wie sein Ehrgeiz, seine Story zu komplizieren, er weiß alles über Verzögerungen und Beschleunigungen, er prunkt auf eine ironische Weise mit seiner Bildung und gibt stimmige Porträts der Figuren. Am Ende ist jeder Leser zufrieden, der durchgehalten hat. Er hat einen Autor entdeckt, der die große Tradition der lateinamerikanischen Literatur auf neue Weise fortsetzt.

Literaturangaben:
ARLT, ROBERTO: Das böse Spielzeug. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Mit einem Nachwort von Juan Villoro. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. 200 S., 13,80 €.
KOHAN, MARTÍN: Sekundenlang. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 270 S., 19,80 €.

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Verlag:

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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