BERLIN (BLK) – Im September 2010 ist der Roman „Roter Milan“ von Marianne Suhr in der edition ebersbach erschienen.
Klappentext: Die Grenzen sind geöffnet, die neue Bundesrepublik beginnt zusammenzuwachsen. Karin, die aus Brandenburg stammt, aber in den Westen gegangen ist, als es noch möglich war, verspürt Ängste vor den politischen Veränderungen in einem vereinten Deutschland. Kurz nach der Wende verlässt sie Berlin, um in Luxemburg zu leben, wo auch ihre Schulfreundin Janne wohnt. Am ersten Tag im neuen Land fährt Karin – zunächst aus Versehen, dann noch einmal mit voller Absicht – mit dem Auto gegen eine Mauer.
Marianne Suhr, wurde in Nennhausen im Havelland geboren. Mit 18 Jahren verließ sie die DDR, heiratete und bekam 3 Kinder. Mit 39 Jahren holte sie das Abitur nach, studierte Soziologie und legte mit 50 ihre Promotion ab. Sie lehrte an der TU Berlin und arbeitete bis 2000 in der Senatsverwaltung Berlin. Seit 2001 ist sie Vorsteherin der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin und arbeitet als Schriftstellerin.
Leseprobe:
©Edition Ebersbach©
Karin ist gegen eine Mauer gefahren.
Nun sei sie im Krankenhaus, sagte sie mir am Telefon, habe Verletzungen am Kopf und am Fuß. Sie bat mich zu kommen.
Im Fernsehen wurde das Ereignis des Tages übertragen: Man hörte die Hymnen, sah das Sonnen-Wetter, den Ort, die Personen. Arafat geht auf Rabin zu und streckt ihm die Hand entgegen. Rabin zögert. Clinton strahlt und legt seine Hände auf die der beiden anderen, die sich doch noch gefunden haben.
„Ein großartiger historischer Tag“, sagte der deutsche Kommentator, „dieser 13. September 1993.“
Ich schaltete den Fernseher aus und fuhr sofort ins Krankenhaus.
„Sind Sie verwandt?“, fragte der hagere Arzt.
„Nein, eine Freundin.
Er sah mich prüfend durch seine kleine, runde Brille an, als sei auch ich eine Patientin. Dann kommt seine Auskunft bereitwillig und schnell: „Schrägfraktur im linken äußeren Mittelfußknochen, Prellung des rechten Schläfenbeins und vermutlich Gehirnerschütterung ohne nachweisbare Auffälligkeiten nach einem Auffahrunfall gegen eine Mauer.“
„Warum?“, fragte ich ihn. „Kontrolle verloren“, antwortete er und hob die Schultern. Ungefragt fügte er hinzu: „Nein, Alkohol war nicht im Spiel.“ Er ging eilig davon.
Karin sitzt in einem hellen, geräumigen Krankenhauszimmer auf einem Sessel am Fenster. Sie hat ein Pflaster neben dem rechten Auge und eins auf der Stirn. Das linke Bein geschient und verbunden, lagert auf einem Hocker. Die schwarze, weite Hose ist hochgeschoben, als wolle Karin ihren Verband im Auge behalten. Über einem weißen T-Shirt trägt sie ein hellblaues Jeans-Hemd. Ihre Haare, alle im Nacken zusammengebunden, sind so dunkel wie immer, nur einzelne graue glitzern wie Schmuck dazwischen. Sie bauschen sich über der Stirn wie Vogelschwingen. Ihre braunen Augen sind mir vertraut, und sie lächelt wie früher mit geschlossenen Lippen und hochgezogenen Mundwinkeln, kleine Fältchen bilden sich unter den Augen zu den Schläfen.
Nein, sie habe nicht gegen die Mauer fahren wollen, nachdem sie schon den ganzen Tag über die Grenzen gefahren war, die Luxemburg mit anderen Ländern nun eher verbinden als trennen. An den kleinen Schildchen vorbei, den blauen mit den gelben Sternchen und den Ländernamen darunter: France, Belgique, Deutschland, Luxembourg. Karin erzählt schnell und es klingt, als müsse sie ihr Recht verteidigen, über eine Grenze fahren zu dürfen, so oft sie will.
Sie betrachtet ihr geschientes und verbundenes Bein, sieht mich an, wir lachen beide, nur wenig, so wie man lacht, wenn aufkommende Heiterkeit unter gegebenen Umständen plötzlich unangemessen scheint. Dann berichtet sie:
„Ich kam von Arlon und hatte gerade die Grenze nach Luxemburg überquert, da sah ich am Straßenrand den Polizeiwagen, gab Gas, in der Kurve war die Mauer, plötzlich der Hund, ich wollte ihm ausweichen, konnte noch bremsen, aber das Auto traf die Mauer, es stand still. Die Mauer auch.“ Sie schließt die Augen und schüttelt den Kopf, als wolle sie sich an genau diesen Moment erinnern. „Mein linker Fuß war unter einem Pedal festgeklemmt, die Tür ging nicht auf, als ich es versuchte. Zwei Polizisten kamen schnell. Sie halfen mir, durch die andere Tür das Auto zu verlassen. Die Polizisten hielten mich fest, einer tupfte mit einem Zellstofftuch in meinem Gesicht herum, der andere telefonierte. Ich spürte Schmerzen im Fuß und im Kopf. Nach einiger Zeit kam ein Krankenwagen, ich wurde auf eine Trage gelegt und festgeschnallt in das Auto geschoben. Eine Sirene ging an, und sie fuhren mich in dieses Krankenhaus. Es war so unwirklich, nicht unheimlich, aber irgendwie absurd“
„Wo ist Robert?“, frage ich. „Sie haben ihn gleich angerufen. Es war sein erster Arbeitstag, er war schnell hier, hat alles Formale erledigt. Ganz ruhig, stell dir vor. Erst als ein Arzt fragte, ob ich Drogen nähme, reagierte er heftig, obwohl er nur den Kopf schüttelte. Aber er hielt danach fest meine Hand. Ich war ohne Tasche gegangen, als ich morgens mit dem Auto wegfuhr. Ich wollte nur übers Land fahren, nachsehen, wo und ob ich angekommen bin. Ganz einfach über die Grenzen fahren. Und zurückkommen, alles ohne Kontrolle! Aber dann waren da plötzlich die Polizisten.“
Sie schweigt, legt ihre Hand auf das verbundene Bein.
„Tut’s weh?“
Sie schüttelt den Kopf. „Es ist wie im Traum. Ich sehe mir zu und kann es nicht erklären. Hilfst du mir in die Wirklichkeit?“
„Wir haben Zeit. Ich bin da.“ Sie wiederholt meine Worte, fügt hinzu: »Das ist wie früher, Kinderworte, nie verlassen, immer da sein. Aber ich glaube dir.“
Karin erzählt mir dann ruhig, als berichte sie über ein fremdes Ereignis, wie man den Fuß geröntgt, geschient und verbunden und ihr angeboten habe, nach Hause zu gehen mit weiterer ambulanter Behandlung. Sie habe abgelehnt, weil ihr Kopf so schmerze, sie wolle das beobachten lassen. So sei sie nun hier für eine Weile, sehe auf die Berge in Richtung Westen mit den Dörfern obenauf, im Norden die Rote Brücke, beobachte die Straße unten, wo viele Autos fahren, sehe die Wolken, die vom Wind getrieben sich verschieben und dann und wann die Sonne sehen lassen, was hier passiert. „Es passiert nun eigentlich nichts mehr“, sagt sie und lächelt müde.
Robert habe sie noch einmal besucht und ihr Schreibpapier und Bücher und Orangen gebracht, wie sie es sich gewünscht hatte. Nun habe sie Zeit wie lange nicht und schäle sogar die Apfelsinen mit Akkuratesse und Behutsamkeit.
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Literaturangabe:
SUHR, MARIANNE: Roter Milan. edition ebersbach, Berlin 2010. 264 S., 22 €.
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