BERLIN (BLK) – Im Berenberg Verlag ist im August 2011 eine Reportagensammlung von Pankaj Mishra unter dem Titel „Lockruf des Westens“ erschienen. Matthias Wolf hat es aus dem englischen Original ins Deutsche übersetzt.
Klappentext: Kaum einer der großen asiatischen Länder ist wie Indien hin- und hergerissen zwischen den vermeintlichen Segnungen des Westens und traditionsbewusstem Beharrungswillen. Pankaj Mishra kommt aus diesem Zauberreich er liebt sein Land und kennt die ganze Welt. Seit über zehn Jahren schreibt er für internationale Zeitungen und Zeitschriften über die kulturelle und politische Aura des Subkontinents. Hier beschreibt er in vier autobiographischen Kapiteln die Zerreißprobe, mit der Indien auch die ganze Welt in Atem hält. Soll es Benares sein, die Stadt am Ganges, wo die Hindus ihre Toten verbrennen? Allahabad, Heimat der Nehrus und Gandhis? Ayodhya, Zankapfel zwischen Moslems und Hindu-Fanatikern? Oder doch lieber Bombay und Bollywood, das schrille Schaufenster zum Westen, das sich doch nirgendwo anders öffnet als in Indien?
Pankaj Mishra wurde 1969 in Nordindien geboren und lebt heute in London und am Rand des Himalaya. Er schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für die „New York Review of Books“ und für den „New Yorker“ über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er hat Essays in „Lettre International“ und „Cicero“ veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman „Benares oder Eine Erziehung des Herzens“ (2001; seit 2008 unter dem Titel „Die Romantischen“) und „Unterwegs zum Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Wirkung“ (2005) erschienen.
Leseprobe:
©Berenberg©
Bollywood :
Indien leuchtet
Im Dezember 2003 lernte ich in Bombay Mahesh Bhatt kennen, einen der berühmtesten und erfolgreichsten Filmemacher Indiens. Er sagte zu mir: „Bollywood ist ein Teil dessen, was aus unserer Kultur geworden ist. Wir lügen uns die ganze Zeit selbst etwas vor.“
Eine solche Äußerung hatte ich von Mahesh nicht erwartet, als ich ihn aus London per E-Mail um ein Interview bat und sagte, ich wolle die Filmwelt Bombays, sprich: Bollywood, kennenlernen. Ich hatte einige seiner rund vierzig Filme gesehen, und sie hatten mir gefallen, die autobiographischen über seine uneheliche Geburt, seine unglückliche Kindheit mit seiner moslemischen Mutter, sein außereheliches Verhältnis mit einer psychisch kranken Schauspielerin, das ihm in den achtziger Jahren einen gewissen Ruhm eingebracht hatte. Zwar hatte er fünf Jahre zuvor die Regiearbeit aufgegeben, doch schrieb er nach wie vor
Drehbücher und überwachte die Produktionsfirmen seiner Tochter und seines Bruders. Er hatte eine Biographie über seinen Freund, den Philosophen U. G. Krishnamurti, veröffentlicht und drehte Dokumentarfilme, wurde aber zunehmend auch für seine kritischen Kommentare in den Medien bekannt, in denen er gegen Hindu-Nationalisten, gegen Prüderie und die amerikanische Außenpolitik zu Felde zog.
Ich sah ihn häufig im Fernsehen, eine beeindruckende Gestalt mit dem weiten schwarzen Hemd, das einen auffälligen Kontrast zu dem verbliebenen weißen Haar auf seinem glänzenden Schädel bildete. Einmal hatte ich ihn bei einer Diskussion mit einem führenden Hindu-Nationalisten schreien hören: „Ich bestehe auf meinem Recht, Pornos anzusehen!“ „Glauben Sie mir“, sagte er ein anderes Mal, „der Hindu- Fundamentalismus wird der Untergang dieses Staats sein.“ Vor nicht allzu langer Zeit hatte er die Einladung zu einem Gebetsfrühstück im Weißen Haus abgelehnt und George W. Bush als den „schlimmsten Verbrecher der Welt“ bezeichnet.
Dramatik spielte für Mahesh zweifelsohne eine wichtige Rolle. „Mein Gott ist jung gestorben“, sagte er einmal und erzählte mir, wie er – aus Wut auf einen Gott, der seine moslemische Mutter und seinen brahmanischen Hindu-Vater trennte – eines Tages seine kleine Ganesha-Statue im Arabischen Meer vor Bombay versenkt hatte. Als ich ihm am Set von Murder – einem Film, den er für seinen Bruder geschrieben hatte – zum ersten Mal begegnete, war er gerade von seiner ersten Pakistanreise zurückgekehrt. Es sei ein zutiefst emotionales Erlebnis gewesen, sagte er. Er habe gespürt, wie sein verborgenes moslemisches Selbst dort zum Leben erweckt worden sei. Die Reise habe auch die Erinnerungen an seine leidgeprüfte moslemische Mutter wachgerufen.
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Obwohl er erst fünfundfünfzig war, sah er sein Leben rückblickend als eine lange Reise mit eindeutigen Etappen. Zwischen zwanzig und dreißig hatte er oft LSD genommen und „im spirituellen Supermarkt eingekauft“. Ab dreißig, als ihm der Durchbruch als Filmemacher gelang, hatte er eine „große innere Leere“ kennengelernt und nur Trauer empfunden, wenn sein Faxgerät die Einspielergebnisse der indischen Kinos ausspuckte. In Los Angeles, der „Hauptstadt des Materialismus“, hatte er dann beschlossen, dem „Streben nach Erfolg“ abzuschwören, und sagte sich in einem symbolischen Akt von seinem ehemaligen Guru „Osho“ Rajneesh los, indem er seine Gebetskette in die Toilette warf. Sein Tonfall war derart leidenschaftlich und überzeugend, dass ich mir die Frage verkniff, ob der Wasserdruck in Bombay denn auch genügt habe, um die Perlen hinunterzuspülen.
Mit seinen unverblümten Äußerungen machte er sich in Bollywood unbeliebt. „Der ist ein Selbstvermarkter“, sagte ein Filmjournalist zu mir. „Fragen Sie ihn doch mal, warum er seinem Bruder und seiner Tochter hilft, zweitklassige Filme zu machen. Oder warum er für seine Drehbücher Hollywood-Filme abkupfert ?“
Doch was seine Arbeit betraf, war Mahesh durchaus selbstkritisch. „Ich habe viel Schund gedreht. Alte Formate wiederverwertet, was Bollywood ja ständig macht. Irgendwas muss man ja schließlich tun.“ Er sehe das Filmemachen illusionslos und betrachte es als ein Gewerbe wie jedes andere auch. „Warten Sie nicht auf das perfekte Angebot, das gibt es nicht“, sagte er einem jungen Schauspieler, der mit seinem fitnessgestählten Körper zeitweise als Model arbeitete und gekommen war, um ihn um Rat zu bitten. „Was wollen Sie zu Hause denn sonst anfangen, von Bodybuilding mal abgesehen ?“
Sobald der Schauspieler gegangen war, wandte er sich wieder mir zu. „Wahrscheinlich wollen diese jungen Menschen etwas anderes hören. Sie kommen zu mir, sie glauben, ich wäre im Geschäft, ich hätte jede Menge zu tun und würde sie ermutigen. Kann ich aber nicht. Ich kann Bollywood nicht größer machen als es ist.“
Er sagte, seine eigenen Filme – selbst diejenigen, durch die er reich und berühmt geworden war – hätten ein Gefühl „abgrundtiefer Unerfülltheit„ in ihm hinterlassen. Dann fügte er hinzu: „Aber ich weiß, mich erwartet nirgendwo Erfüllung. Mein Freund U. G. Krishnamurti sagt, dass es keine andere Realität gibt als diejenige, mit der man jeden Tag lebt.“
Maheshs Selbstverständnis erschien mir etwas allzu kompakt und gestochen. Dennoch besuchte ich ihn, solange ich in Bombay war, immer wieder in seinem Büro im Vorort Juhu. Ich ging an der Rezeption vorbei geradewegs zu seinem kleinen Zimmer, wo er meist auf einem langen Sofa lag. Direkt darüber war ein breites Fenster, durch das man auf Baracken im Schatten hoher, schmuddeliger Gebäude blickte. Auf Maheshs mächtigem Bauch lagen zwei Mobiltelefone. Eines davon klingelte häufiger als das andere, doch Mahesh griff immer nach beiden, hob den Kopf vom Sofa und schielte eine scheinbare Ewigkeit auf die Displays, ehe er antwortete.
Am Telefon war er kurz angebunden, außer mit seiner Frau und seiner Tochter. „Wer ist dran?“, fragte er gerne, und ehe er das Gespräch beendete, wiederholte er in rascher Folge: „Bye, bye, bye“. Bisweilen öffnete sich die Tür, und dann kam entweder Nirmal, sein persönlicher Diener, mit Tee und Kaffee herein oder einer der hippen jungen Leute, die dort im Büro arbeiteten. Manchmal erschien auch jemand, den Mahesh einbestellt hatte: eine pakistanische Schauspielerin, die auf einen Job in Bollywood hoffte; eine parsische Musikerin und Balletttänzerin, die es beim Film versuchen wollte; ein großer, arrogant wirkender Schauspieler im Superman-T-Shirt, der, wie ich später erfuhr, der Enkel eines berüchtigten Politikers in Bombay war und bei Murder mitgespielt hatte. Einmal kam Maheshs Frau Soni, eine zierliche, schüchterne Person. Sie hatte in den achtziger Jahren in vielen Autorenfilmen mitgespielt und wollte jetzt zum ersten Mal selbst einen Film drehen.
Gelegentlich, allerdings weniger häufig, öffnete sich die Tür auch für aufstrebende Schauspieler, Regisseure, Musiker, Filmverleiher und PR-Agenten, die an der Rezeption in der Hoffnung warteten, Mahesh oder seinen Bruder Mukesh abzufangen. Sobald Mahesh sein Zimmer verließ, wurden sie munter, einige folgten ihm bis aufs Gelände hinaus und redeten hastig auf ihn ein, bis er in sein Auto stieg.
An der Einfahrt zum ummauerten Gelände standen weitere junge Männer. Ich sah sie jeden Tag mit dem Chowkidar (Wachmann) und den Fahrern der im Hof parkenden Wagen reden. Sobald ein Auto durchs Tor fuhr, verstummten sie und schauten erwartungsvoll ins Wageninnere. Mohammed, der Fahrer meines Mietwagens, sagte, das seien „Aspiranten“, die aus den verschiedensten Teilen Indiens nach Bombay kämen und von einer „Chance“ in Bollywood träumten. Sie trieben sich häufig vor den Produzentenbüros herum und taten ihr Bestes, die Aufmerksamkeit der wichtigen oder einflussreichen Leute dort zu erregen.
©Berenberg Verlag©
Literaturangabe:
MISHRA, PANKAJ: Lockruf des Westens. Modernes Indien. Aus dem Englischen von Matthias Wolf. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 208 S., 24 €.
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