Von Mirco Drewes
Ferdinand Fellmann, emeritierter Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der TU Chemnitz, hat der verdienten Reihe „…zur Einführung“ des Hamburger Junius-Verlags den Band zur Philosophie der Lebenskunst hinzugefügt. Die Idee der Lebenskunst umreißt ein Spannungsfeld, das zwischen den Handlungszielen des Einzelnen und dem Gemeinwesen besteht und sich über praktische Fragen der Lebensführung bis zur Auslegung moral-philosophischer Grundbegriffe wie „das Glück“, „das Gute“ und letztlich „das Leben“ selbst erstreckt.
Wird Lebenskunst zu einem philosophischen Gegenstand, so hat sie die Bedingungen zu reflektieren, unter denen sich allgemeine Verhaltensregeln formulieren lassen. Der Mensch als seiner Selbst bewusstes Wesen rückt in den Mittelpunkt einer philosophischen Lebenskunst als Hermeneutik der Selbsterkenntnis. Im philosophischen System ist Lebenskunst als Teil der Moralphilosophie anzusehen, geht jedoch aufgrund des Fehlens einer systematischen Deduktion von absoluten moralischen Geboten nicht in ihr auf. Ferdinand Fellmann beschreibt die Lebenskunstphilosophie als historisch unvollendetes Programm einer „Protoethik“, die Haltung als Handlungsvoraussetzung für ein gelingendes Leben beschreibt.
Ausgehend von der aktuellen Situation stark nachgefragter Ratgeberlektüre skizziert Fellmann die Lebenskunst in ihrem derzeitigen Bezug zur Philosophie. Dieser ist systematisch schwer zu verorten, da ästhetische, psychologische und soziologische Aspekte in die Thematik hinein spielen. Die Einführung verfährt historisch-kritisch, um der wechselvollen Historie der Lebenskunstliteratur und ihrer Beziehung zur Philosophie nachzuspüren, die zwischen fast vollständiger Absorption und Externalisierung schwankt. In hermeneutisch-synchronisierenden Textstudien, die größtenteils eine gelungene Balance zwischen Detailtreue und Überblicksdarstellung auszeichnet, wird zudem die Rückbeziehung des jeweiligen historischen Gedankenkosmos auf die Richtungswechsel der Lebenskunsttexte aktualisiert.
Der historische Überblick beginnt bei den Vorsokratikern und deren praktisch ausgerichteten Weisheitslehre, die eher der heutigen Vorstellung von Lebenskunstliteratur entspricht, als der neuzeitlichen theoretisch orientierten Philosophie. Die Transformation des Mythos zum Logos beginnt mit Platon und den sokratischen Dialogen und wird von Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ fortgeführt. Mit der Akzentverschiebung in Richtung auf die Ratio wird der anthropologische Dualismus zwischen Trieb und Verstand, Laster und Tugend aufgebaut, der lange Zeit die Leitlinie der ethischen Diskurse bestimmen wird. Mit dem Ende der antiken Polis geht die Lebenskunst im Hellenismus neue Wege.
Gut aufbereitet bezieht Fellmann in seine Überlegungen die sozialpsychologischen Verwerfungen des gesellschaftlichen Zusammenhangs ein. Mit Epikur und den Stoikern rückt das Individuum in den Mittelpunkt der Lebenskunstbetrachtung. Im Zentrum der Lebenskunst steht die Eudämonie, das Glück. Dieses wird nicht mehr wie in der Antike gedacht als endgültig zu realisierendes durch die Befolgung metaphysischer Gesetze, sondern als eine Aufgabe der individuellen Selbsterfahrung. Diese formale Ausrichtung der hellenistischen und stoischen Lebenskunst eröffnet erst die philosophische Dimension der Lebenskunst. Diese Dimension wird in der mittelalterlichen Scholastik im Signum christlicher Mystik theologisiert und stark verinnerlicht.
Der Zusammenbruch der christlich-mittelalterlichen Welt im 13. Jahrhundert und die italienische Renaissance führen zu einer Ästhetisierung der Lebenskunst und propagieren die wechselseitige Vervollkommnung von Individuum und Gesellschaft. Die antike Tugendethik wird ästhetisch transformiert und schließlich bei Macchiavelli in einer Art Gebrauchslehre der moralischen Werte ökonomisiert. In Frankreich vertritt Montaigne einen integrativen Skeptizismus, der die philosophische Situation des Menschen in der Welt um das Existential des persönlichen Todes erweitert. Die Tendenzen der Subjektivierung der Lebenskunst und ihr Ort im Gebäude der Philosophie werden durch die kantische Philosophie im 18. Jahrhundert gründlich verschoben – auch die Lebenskunst erfährt ihren Epochenbruch.
Die „Kritik der praktischen Vernunft“ führt von den subjektiven Lebenskunstkonzeptionen der Vorzeit zum allgemeingültigen Sittengesetz, was zur rigiden Formalisierung der Moral und deren rationaler Fundierung führt, freilich auf Kosten emotionaler Evidenz. Dieser Bruch zwischen formal-logischer Objektivität und subjektiver Handlungssituation hatte unterschiedliche Versuche der Überwindung im Deutschen Idealismus zur Folge. Über Hegel und dessen dialektisch-bürgerliche Philosophie wird die Vorstellung der Moral durch Schopenhauers Philosophie in Lebensphilosophie gewandelt. Friedrich Nietzsche überführt die Lebenskunst in der Moderne schließlich in den existentialistischen Ästhetizismus, der deren Fragestellungen bis heute mitbestimmt.
Die historische Darstellung und die Beschreibung aktueller Lebenskunstkonzepte und –kontexte gelingt Fellmann pointiert und in für eine Einführung gebotener Klarheit. Der Zugriff auf die philosophische Genese der Thematik hält stets eine gelungene Distanz zum Gegenstand. Die Aufbereitung Fellmanns arbeitet den historischen Nexus heraus, problematisiert ihn aber gelungen im Hinblick auf die Unvollendetheit des Projekts der Lebenskunst. Insbesondere an den neueren Konzepten und Zugriffen erweist sich Fellmann als besonnener und kritischer Geist, der sozialpsychologische Einflüsse auf die postmoderne Subjektkonstitution und die zunehmend problematische Konstruktion von Biographie sensibel und kritisch berücksichtigt.
Im Rahmen der, wenn auch notwendig knapp gehaltenen Berücksichtigung der sich derzeit großer Popularität erfreuenden fernöstlichen Lebenskunstliteratur kommt Fellmann zu einer differenzierten, wie gut begründeten Bewertung: die unterschiedlichen Rationalitätsvorstellungen von Orient und Okzident lassen einen Rekurs auf die vorkantianische Philosophie hierzulande als theoretisch nicht begründbaren Regress erscheinen. Ausblickend konstatiert Fellmann einen Anspruch der Lebenskunst an ihren Platz im Gebäude der Lebensphilosophie, wenn sie in der Lage ist, die Widersprüche der existentiellen Zeitlichkeit der conditio humana im Hinblick auf die subjektive Eigenzeit als Reflexionsmedium zu integrieren. Lebenskunst kann nur als Philosophie in einer konstruktiv-narrativen Struktur bestehen.
Ferdinand Fellmann hat mit der „Philosophie der Lebenskunst zur Einführung“ eine interessant zu lesende Introduktion in eine heterogene Materie vorgelegt. Der gesamte Band ist getragen von einer synthetisierenden Lesart des Stoffes, die die Eigenheiten epochaler Denktraditionen herausarbeitet und überzeugend auf den gegenwärtigen Erkenntnis- und Problemstand finalisiert. Souveränität und akademische Redlichkeit zeichnet die Publikation allenthalben aus. Die fachliche Stärke ihres Autors allerdings kann über die einzige, wiewohl sträfliche, konzeptuelle Schwäche des Bandes nicht hinwegtrösten: Dem der Materie unvertrauten Leser gegenüber wäre ein Glossar wünschenswert. Wissenschaftliche Termini sollten in einer Einführung, so diese nicht erläuternd im Text eingeführt werden, in einem Fachwortregister geordnet mit knapper historischer und begrifflicher Erläuterung dargeboten werden. Ansonsten stellt die Einführung in die „Philosophie der Lebenskunst“ eine uneingeschränkt empfehlenswerte Lektüre für den vorgebildeten Leser dar und vermag dem Novizen einen Überblick über die Materie zu verschaffen, die Neugier weckt, tiefer in den Stoff einzudringen.
Literaturangabe:
FELLMANN, FERDINAND: Philosophie der Lebenskunst zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2009. 223 S., 13,90€.
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