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Das Glück ist anderswo

Andrew Millers "Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens"

Von: ALEXANDER KLUY - © Die Berliner Literaturkritik, 31.03.04

 

Eines muss man dem Münchner Carl Hanser Verlag, zu dem auch seit einigen Jahren der altehrwürdige Paul Zsolnay Verlag gehört, neidlos zugestehen. Ihm respektive seinem Gestalter Peter-Andreas Hassiepen gelingen die schönsten Schutzumschläge deutscher Belletristik-Verlage. Die melancholisch aufgeladene, hellsepiafarbene Fotografie von Akira Nagamatsu, die sie als umlaufendes Motiv für den jüngsten Roman des englischen Schriftstellers Andrew Miller auswählten, ist nicht nur ungemein reizvoll und entzückend, sondern es besteht ein kluges Band zwischen Innen und Außen, zwischen dem Mann auf der Fotografie, der sich vom Betrachter abgewandt hat und über eine kleine Brüstung auf unergründlich sich ausbreitendes Meer hinausblickt – grübelt er? verzweifelt er? fasst er einen Entschluss? – und den Personen in "Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens".

Im Original war das Buch viel nüchterner, ja lakonisch überschrieben: "Oxygene", Sauerstoff. Doch hinter dieser Lakonie verbirgt sich ein übergroßer symbolischer und auch symbolbefrachteter Gehalt, den das deutsche Lektorat unprätentiös umschiffte. Zugleich stellt sich hier eine Verbindung zu dem Vorgängerband ein, zu Andrew Millers Roman über Casanova, den die Zsolnays "Eine kleine Geschichte, die meist von der Liebe handelt" titulierten. Auch dieses, sein letztes Buch handelt zumeist von der Liebe, aber auch von ihrem Verlustiggehen, ihrem Entgleiten. Es handelt aber auch von benachbarten Phänomenen wie von Konträrem, dem Tod, dem langsamen grausamen Verfall eines Körpers auf den letzten Stufen der Existenz vor dem Tod.

Unsicherheiten und andere Abschiede

In einem Haus im englischen Südwesten, es ist das Jahr 1997, finden sich am Sterbebett Alice Valentines nach und nach ihre Söhne ein. Alec, der vor Jahren panisch-überfordert eine Lehrerstelle aufgab und sich seitdem mit mäßigem Erfolg als Übersetzer aus dem Französischen durchschlägt, und sein drei Jahre älterer Bruder Larry. Einst ein Sport-Ass und ein erfolgreicher Tennisprofi gelang Letzterem nach Ende seiner Karriere der Einstieg in eine amerikanische TV Soap Opera. Dort mimte er einen englischen Arzt, bis er sich mit dem neuen Regisseur verkrachte, die Rolle hinschmiss und jetzt, anderthalb Jahre später, realisiert, wie ihm der Boden unter den Füßen entgleitet – finanziell, emotional und moralisch.

Finanziell, weil eine psychotherapeutische Behandlung seiner neurotischen Tochter die letzten Geldreserven aufzufressen droht, emotional, weil seine Ehe in die Brüche zu gehen scheint, moralisch, weil er sich in seiner Not dazu bereit erklärt, Pornofilme zu drehen. Überdies ist er auf gutem Weg zum Alkoholiker, der zwischen die Trinkpausen noch das Schnupfen von Kokain einstreut. Die Brüder erleben den physischen Verfall ihrer Mutter, ihre verzweifelten Anstrengungen, sich der Hinfälligkeiten, die sie zum Pflegefall werden lassen, zu widersetzen. Und sind beide überfordert.

Andrew Miller schildert dies mit ausgesuchter, subtiler Delikatesse. In diesen Passagen ist kein Wort zu viel. Seine Dialoge sind grandios in ihrer messerscharfen Setzung, in dem was ungesagt, aufgeschoben, unbewältigt bleibt. Der Höhepunkt des Buches ist die zutiefst anrührende Fahrt der Familie zu Alice' Elternhaus. Innen völlig umgebaut, bricht sich ihre Erinnerung, die Sehnsucht nach der Kindheit, nach intaktem, gelebtem Leben Bahn an einem entfernt stehenden alten Baum im Garten. Wer einmal Ähnliches erlebte, kann sich diesen unaufgeregt-empathischen, sehr sorgfältig beobachteten Vorgängen kaum entziehen, die bar jeder Sentimentalität sind.

Unsicherheiten und andere Zugewinne

Parallel dazu entfaltet Miller eine Erweckungsgeschichte über das Begleichen einer Lebensschuld. Anknüpfungspunkt ist das französische Schauspiel, das Alec zu übersetzen versucht, des seit 1956 in Paris lebenden Exilungarn László Lázár. Betitelt ist dieses, wie betont wird, unüblich mit zartem Optimismus endende Drama über verschüttete Bergarbeiter "Oxygen", Sauerstoff. Seine lebenslang gehegte Schuld ist sein Versagen angesichts der Ermordung seines ersten Geliebten, Péter, während des Aufstands 1956.

Er hätte dies verhindern können, wenn er die Attentäter erschossen hätte, was ihm nicht möglich war. In Paris kontaktiert von albanischen Aktivisten, schmuggelt er Geheimnisvolles nach Budapest, übergibt dies dort – und begegnet seinen Lebensspuren in der seither von ihm selten aufgesuchten Doppelstadt an der Donau. Hier gelingt es ihm, eine Versöhnung zu vollziehen, mit sich, mit seinem nun aufgewogenen Versagen, mit seinen Selbstqualen.

Gerade an den dramaturgischen Punkten, wo vielleicht andere Autoren eingesetzt hätten, endet Andrew Millers Prosa. Die letzte Phase des Sterbens von Alice erfährt man genauso wenig wie den Ausgang eines Schlichtungsversuches Lászlós, der in einen Streit eines befreundeten Paares eingreift, bei dem der Mann, ein Maler mit pathologischen Schüben, sich bewaffnet in seinem Atelier verschanzt hat.

Beim Zuschlagen des Buches verharrt man länger in einer diffusen Stimmung, die der Umschlag wiedergibt – unsicher, aufgewühlt, grüblerisch, kurz vor dem Optimismus, aber vielleicht schon nach der Lebenskehre, die eine verzweifelt ersehnte Änderung unmöglich macht. Kann ein Roman mehr bieten?

Literaturangaben:
MILLER, ANDREW: Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003. 336 S., 21.50 €.

Alexander Kluy arbeitet als freier Buchkritiker für dieses Literatur-Magazin


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