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Auf der Reise ins märchenhafte Königreich

Umberto Ecos Roman „Baudolino“

© Die Berliner Literaturkritik, 01.12.06

 

MÜNCHEN (BLK) – Nach dem großen Erfolg in Italien liegt nun Umberto Ecos neuer und unterhaltsamer Schelmenroman „Baudolino“ auf Deutsch vor. Der Autor habe die Lebensgeschichte des 13-jährigen Bauernsohnes Baudolinos erzählt, teilt der Deutsche Taschenbuch Verlag mit.

Die prachtvolle Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, Konstantinopel, werde erobert, geplündert und von den Rittern des Vierten Kreuzzuges in Brand gesetzt, so der Verlag. Einer von ihnen ist ein gewisser Baudolino aus dem Piemont. Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, führe er den Leser durch ein historisches Panorama von überwältigender Breite. Baudolino gelange aufgrund einer eintreffenden Prophezeiung an den Hof von Friedrich Barbarossa. Er habe den im Nebel herumirrenden Kaiser Barbarossa aufgegabelt, der Gefallen an dem Jungen fand und ihn adoptierte. Schließlich begleite Baudolino den Kaiser auf seinen Italienfeldzügen gegen die aufmüpfigen oberitalienischen Städte und auf dem großen Kreuzzug ins Heilige Land.

Vieles habe Baudolino miterlebt, doch ein Geheimnis kenne nur er ganz allein: Barbarossa, angeblich in einem Fluss ertrunken, sei mysteriöserweise bereits in der Nacht zuvor ums Leben gekommen. Baudolino ahne plötzlich, wer der Mörder sein könnte, schließt der Verlag.

 

Leseprobe:

© Deutscher Taschenbuch Verlag

 

BAUDOLINO BEGEGNET NIKETAS CHONIATES

„Was ist das?“ fragte Niketas, nachdem er das Pergament in den Händen herumgedreht und einige Zeilen zu lesen versucht hatte.

„Das war meine erste Schreibübung“, antwortete Baudolino. „Seit ich das geschrieben habe - ich war vielleicht vierzehn und noch kaum mehr als ein Waldbauernbub -, trage ich es überall mit mir herum wie ein Amulett. Danach habe ich noch viele andere Pergamente beschrieben, in manchen Zeiten Tag für Tag. Es kam mir so vor, als ob ich überhaupt nur existierte, um abends aufzuschreiben, was mir tagsüber widerfahren war. Später genügten mir knappe monatliche Notizen, wenige Zeilen, um mich an die wichtigsten Geschehnisse zu erinnern. Und ich sagte mir, wenn ich einmal in fortgeschrittenem Alter sein würde - wie man es jetzt sagen könnte -, würde ich anhand dieser Aufzeichnungen die ,Gesta Baudolini’ verfassen. So trug ich auf meinen Reisen die Geschichte meines Lebens mit mir herum. Doch bei der Flucht aus dem Reich des Priesters Johannes ...“

„Priester Johannes? Nie gehört ...“

„Ich werde noch von ihm sprechen, vielleicht sogar zuviel. Was ich sagen wollte, bei jener Flucht habe ich meine Aufzeichnungen verloren. Es war, als hätte ich mein Leben selbst verloren.“

„Erzähl mir, woran du dich erinnerst. Ich sammle Bruchstücke von Geschehnissen, Splitter von Begebenheiten und gewinne daraus eine Geschichte, die sich anhört, als sei sie durchwirkt von einem Plan der Vorsehung. Du hast mich gerettet und mir dadurch das bisschen Zukunft gegeben, das mir noch verbleibt. Zum Dank will ich dir die Vergangenheit wiedergeben, die du verloren hast.“

„Aber vielleicht ist meine Geschichte ja sinnlos ...“

„Keine Geschichte ist sinnlos. Und ich bin einer von denen, die den Sinn auch dort zu finden wissen, wo die anderen ihn übersehen. Danach wird die Geschichte zu einem Buch der Lebenden, wie eine helltönende Posaune, deren Klang die Toten aus den Gräbern auferstehen lässt ... Ich brauche nur etwas Zeit, ich muss die Geschehnisse bedenken, sie miteinander verbinden, die Zusammenhänge entdecken, auch die weniger sichtbaren. Aber wir haben ja nichts anderes zu tun, deine Genueser sagen, es wird noch ein paar Tage dauern, bis sich die Wut dieser Hunde gelegt hat.“

Niketas Choniates, vormals Redner am Hofe, oberster Richter des Reiches, Richter des Velums und Logothet der Sekreta oder - wie man bei den Lateinern sagen würde - Kanzler des Kaisers von Byzanz, zugleich Geschichtsschreiber vieler Komnenen sowie der Angeloi, betrachtete neugierig den Mann, der da vor ihm stand. Baudolino hatte ihm gesagt, sie seien sich schon einmal in Kalliupolis am Hellespont begegnet, zur Zeit Kaiser Friedrichs, aber wenn Baudolino damals dabeigewesen war, dann musste er unauffällig zwischen den Ministerialen gestanden haben, wahrend Niketas, der im Namen des Basileus verhandelt hatte, viel schwerer zu übersehen war. Log dieser Lateiner? Jedenfalls hatte er ihn vor der Wut der Invasoren gerettet, hatte ihn an einen sicheren Ort gebracht, ihn wieder mit seiner Familie vereinigt und versprochen, ihn heil aus Konstantinopel hinauszubringen.

Niketas betrachtete seinen Retter. Der Mann sah weniger wie ein Christ denn wie ein Sarazene aus. Ein sonnenverbranntes Gesicht, eine bleiche Narbe quer über die ganze Wange, ein Kranz noch rotblonder Haare, der seinem Kopf etwas Löwenhaftes verlieh. Niketas wäre wohl recht erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, dass dieser Mann bereits über sechzig Jahre alt war. Er hatte sehr große Hände, und wenn er sie verschränkt im Schoße hielt, sah man sofort die knotigen Knöchel. Bauernhände, mehr für die Hacke als für das Schwert gemacht.

Gleichwohl sprach er ein flüssiges Griechisch, ohne bei jedem Wort feine Tröpfchen zu spucken, wie es die Fremden gewöhnlich taten, und Niketas hatte ihn erst vor kurzem mit den Invasoren in ihrer rauhen Sprache reden hören, die er schnell und trocken sprach, wie einer, der sie auch zum Schimpfen und Beleidigen zu gebrauchen weiß. Im übrigen hatte ihm Baudolino am Abend zuvor gesagt, dass er eine Gabe besitze: Es genüge ihm, zwei Leute in irgendeiner Sprache miteinander reden zu hören, und nach kurzer Zeit sei er in der Lage, mit ihnen zu sprechen. Eine einzigartige Gabe, von der Niketas gedacht hätte, sie sei nur den Aposteln gewährt.

Das Leben am Hofe, zumal an diesem, hatte Niketas gelehrt, die Menschen mit stillem Mißtrauen zu taxieren. Was ihm an Baudolino auffiel, war, dass dieser Lateiner bei allem, was er sagte, sein Gegenüber mit einer verhaltenen Ironie ansah, als wolle er ihm bedeuten, seine Worte nicht allzu ernst zu nehmen. Eine schlechte Angewohnheit, die man jedem beliebigen zubilligen mochte, nur nicht einem, von dem man eine wahrheitsgemäße Aussage erwartete, um sie dann in Geschichtsschreibung zu übersetzen. Andererseits war Niketas von Natur aus neugierig. Er liebte es, andere erzählen zu hören, und nicht nur von Dingen, die ihm noch unbekannt waren. Auch was er bereits mit eigenen Augen gesehen hatte, kam ihm, wenn er einen anderen darüber reden horte, ganz neu vor, so als sehe er es aus einem neuen Blickwinkel, als befände er sich auf dem Gipfel eines jener Berge, die auf den Ikonen gemalt sind, und sähe die Steine so, wie sie die Apostel auf dem Gipfel sahen, und nicht wie die Gläubigen unten. Außerdem machte es ihm Vergnügen, die Lateiner zu befragen, die in allem so anders als die Griechen waren, angefangen bei ihren ganz neuen, untereinander so verschiedenen Sprachen.

Niketas und Baudolino saßen einander gegenüber in einem Turmzimmer, das doppelte Spitzbogenfenster nach drei Seiten hatte. Durch eines sah man auf das Goldene Horn und das gegenüberliegende Ufer von Pera mit dem Turm von Galata, der sich aus seiner Umgebung von eng zusammengedrängten Häusern und Hütten erhob; durch das andere sah man den Hafenkanal in den Sankt-Georgs-Arm einmünden; das dritte ging nach Westen, und dort hätte man ganz Konstantinopel sehen müssen. Doch an jenem Morgen war die zarte Farbe des Himmels verdunkelt vom dichten Rauch aus den Palästen und Kirchen, die vom Feuer verzehrt wurden.

Es war die dritte Feuersbrunst, von der die Stadt in den letzten neun Monaten heimgesucht wurde. Die erste hatte die Lager- und Vorratshäuser des Hofes zerstört, vom Blachernenpalast im Nordosten bis hinunter zur Konstantinsmauer, die zweite hatte sämtliche Warenhäuser der Venezianer, Amalfitaner, Pisaner und Juden vernichtet, von Perama bis fast an die Küste, ausgenommen allein jenes Viertel der Genueser unterhalb der Akropolis, in dem sie sich befanden, und die dritte wütete jetzt in der ganzen Stadt.

Unten tobte ein wahres Flammenmeer, die Arkaden brachen zusammen, die Paläste stürzten ein, die Säulen knickten um, die Feuerkugeln, die aus dem Zentrum des Brandes hervorstoben, verzehrten die weiter entfernten Häuser, wonach die Flammen, getrieben von launischen Winden, die das Inferno genussvoll nährten, zurückkehrten, um zu verschlingen, was sie zuvor noch ausgespart hatten. Darüber ballten sich dichte Wolken, an der Unterseite noch rötlich vom Widerschein des Feuers, aber sonst von einer anderen Farbe, bei der man nicht zu sagen vermochte, ob sie auf einer Täuschung durch die Strahlen der aufgehenden Sonne beruhte oder auf der Natur der Spezereien, der Hölzer und anderen Materialien, die dort verbrannten. Überdies kamen je nach der Windrichtung aus verschiedenen Teilen der Stadt Gerüche von Muskatnuss, Zimt, Pfeffer und Safran, Senf oder Ingwer - so dass die schönste Stadt der Welt zwar brannte, aber wie eine Räucherpfanne voller Duftstoffe.

Baudolino stand mit dem Rücken zum dritten Fenster und sah aus wie ein dunkler Schatten, umgeben vom zwiefachen Schein des anbrechenden Tages und der Feuersbrunst. Niketas hörte ihm teils zu, teils vergegenwärtigte er sich noch einmal die Geschehnisse der vergangenen Tage...

© Deutscher Taschenbuch Verlag

Literaturangaben:
ECO, UMBERTO: Baudolino. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006. 640 S., 9,90 €.

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