BERLIN (BLK) -- In der heutigen Belletristik-Presseschau gibt es vor allem Romane, die die jüngere Vergangenheit thematisieren: "Eine Liebe ohne Widerstand" von dem Franzosen Gilles Rozier wird in der "FAZ" unter dem Blick der nicht ganz einfachen Schuldzuweisung betrachtet. In der "NZZ" ist Doron Rabinovici mit seinem Werk "Ohnehin" vertreten, in dessen Mittelpunkt ein ehemaliger SS-Untersturmführer mit Gedächtnisschwund steht. Darüber hinaus werde das New York der fünfziger Jahre mit seinen sozialen Brennpunkten dargeboten sowie ein Versepos gigantischen Ausmaßes.
"Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Lange Zeit waren auch in der Literatur Opfer und Täter der jüngsten Vergangenheit klar auseinander zu halten. Nun gelte es die Grauzonen zu erforschen, so der Rezensent der "FAZ", denn auch Deutsche haben leiden müssen, nicht alle französischen Résistance-Kämpfer zählen zu den Edlen. Gilles Rozier habe in seinem Roman "Eine Liebe ohne Widerstand" einen Fall beschrieben, der mit moralischen Begriffen schwer zu fassen sei. Die weibliche Hauptperson gebe sich lustvoll einem SS-Mann hin, während in ihrem Keller ein Jude verborgen sei. Rozier schreibe gegen Grenzziehungen der Sprachen, Völker und Kulturen an, systematisch unterlaufe er die starren Grenzen von Gut und Böse, lobt die "FAZ".
Die Schriftstellerin Diane Freund wähle für ihren ersten Roman "Ein verrücktes Jahr" Ingredienzen, die typisch für amerikanische Texte seien, klärt die "FAZ auf. Die Zutaten dafür seien ein ärmliches, irisches Milieu, das Aufwachsen der Kinder in einer liebevollen, aber lebensuntüchtigen Familie. Die Geschichte werde einem zehnjährigen Mädchen in den Mund gelegt, die unter anderem ihr früh erwachendes Interesse an Sexualität bekundet. Einer Weile mag man dieser kindlichen Perspektive folgen, auf Dauer wirke sie jedoch ermüdend auf den Leser, gibt die Rezensentin resigniert auf.
Mehr: Die todtraurige Plaudertasche
"Neue Zürcher Zeitung"
Doron Rabinovici habe seinen zweiten Roman "Ohnehin" an den "Wiener Naschmarkt" verlegt, an dem Türken und Griechen, Chinesen und Georgier beweisen, dass auch Wien auf legere Art international sein kann, so die "NZZ". Im Mittelpunkt der "verästelten Handlung" stehe Herbert Kerber, ein ehemaliger SS-Untersturmführer, der am Korsakow-Syndrom leide. Dabei setzt ein Gedächtnisschwund ein, den der Betroffene mit erfundenen Geschichten kaschiere. Nur leider habe Kerber vergessen, dass es etwas gibt, woran er sich nicht erinnern sollte, so dass er "verwirrt und klarsichtig zugleich aus den Jahren seiner Täterschaft plaudere". Wirklich stimmig sei der Roman nur in manchen Passagen; große Themen wie Antisemitismus oder Multikulturalität seien nur thesenhaft illustriert.
Mehr: Nazi-Exorzismus am Naschmarkt
Der Australier Les Murray habe mit seinem im Original bereits 1998 erschienenen "Fredy Neptune" der Gattung "Versroman" ein monumentales , wort- und bildgewaltiges Werk hinzugefügt, das nichts weniger als das Porträt eines halben Jahrhunderts entwerfe, so die "NZZ". Friedrich Boettcher, Sohn deutschstämmiger australischer Einwanderer, öffne ein Familienalbum und erzähle die Geschichte seines Lebens, die schicksalhaft mit historischen Ereignissen verknüpft sei. Der Versroman "Fredy Neptune" sei ein "wahrhaft modernes Epos, eine pikareske Irrfahrt durch ein wahnsinniges Jahrhundert, von Krieg zu Krieg, dazwischen Armut, Gewalt und Vorurteile". Mit diesem Epos habe Les Murray die Weltliteratur um ein "gewichtiges und nobelpreiswürdiges Werk" bereichert, schließt die "NZZ". (dag/zeh)
Zu der Sachbuch-Presseschau:
Zu den Presseschauen vom Montag:
Literaturangaben:
FREUND, DIANE: Ein verrücktes Jahr. Aus dem Englischen von Brigitte Gerlingshoff. Verlag C.H. Beck, München 2004. 302 S., 19,90 €.
MURRAY, LES: Fredy Neptune. Aus dem australischen Englisch von Thomas Eichhorn. Ammann Verlag, Zürich 2004. 520 S., 29,90 €.
RABINOVICI, DORON: Ohnehin. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 258 S., 18,90 €.
ROZIER, GILLES: Eine Liebe ohne Widerstand. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. DuMont Literatur und Kunst Verlag. Köln 2004. 168 S., 16,90 €.