Es gibt sie in Hülle und Fülle. Sie sind 4 bis über 25 mm lang, haben zwei Flügel und kommen in über 5000 Arten vor, etwa 500 davon wurden bisher in Europa nachgewiesen: Schwebfliegen (Syrphidae), auch Schwirr- oder Stehfliegen genannt. Noch nie gehört? Kein Wunder, sie gehören zu den am wenigsten bekannten Tierarten. Kein Interesse? Dann haben Sie etwas verpasst, denn Fredrik Sjöbergs „Die Fliegenfalle“ erzählt nicht nur von winzigen Insekten und großer Leidenschaft, sondern von seltsamen Begegnungen, vom Leben auf einer Insel, von Liebe, Tod und von ungelösten Rätseln. Und es bewirkt, was nur wenigen Büchern gelingt: Es lässt einen beschwingt, wenn nicht gar glücklich zurück.
Das Glück ist bekanntlich leicht, flüchtig und zuweilen ein Meister der Mimikry. Manchmal tarnt es sich als Wespe, dann als Honigbiene, Bremse oder auch als superdünne Mücke mit zarten Beinchen. Gemeint sind ebenjene Schwebfliegen, die große Passion des Fredrik Sjöberg. Er studierte Biologie und Geologie, ist Spezialist in Sachen Syrphidae (dazu noch Schriftsteller, Übersetzer und Literaturkritiker) und gehört zur kleinen Schar der Eingeweihten, die sich von ihnen nicht hinters Licht führen lassen: Ob Criorhina ranunculi, Chrysotoxum fasciatum oder Temnostoma vespiforme, er fängt sie ein, spießt sie auf feine Nadeln und erkundet ihr Geheimnis unter dem Mikroskop. 202 Arten sind ihm bisher in die Falle gegangen, alle auf seiner kleinen Insel. Doch deren fünfzehn Quadratkilometer sind eine ganze Welt, ein Planet für sich.
Fredrik Sjöberg fängt Fliegen und sammelt Geschichten, beiläufige, amüsante und tiefsinnige. Er dekodiert die verschlungenen Partituren der Syrphidae, schweift dann mit gekonntem Schlenker ab und ist, so ganz nebenbei, plötzlich bei August Strindbergs „Knopfologie“, D.H. Lawrence’ Erzählung „Der Mann, der Inseln liebte“ und immer wieder auf den Spuren des schwedischen Entomologen und Reiseschriftstellers René Malaise (1892-1978). Als kleine Hommage sozusagen an den Erfinder der Malaisefalle, jener hauchdünnen Vorrichtung aus feinmaschigem Netz, nicht unähnlich einem altmodischen Zweipersonenzelt mit offenen Seiten, die den Fliegen zum Verhängnis wird, das Herz eines Insektenforschers aber höher schlagen lässt.
Ach ja, die Seele des Sammlers ist ein unerforschtes Land, sein Universum ein sonderbarer Archipel. Sjöberg verbringt den schwedischen Sommer draußen in der üppigen Vegetation, den langen Winter inmitten wackliger Bücherstapel. Ausdauer braucht er, Geduld und den Blick des Spezialisten, beim Lesen der Landschaft, beim Sortieren der Hautflügler, Käfer und Schmetterlinge, beim Entschlüsseln der großen wie kleinen Fragen: nach dem eigenen Leben, den fragilen Bedingungen des Glücks und den eigentümlichen Wegen des René Malaise. Dieser war wahrlich ein Heroe seiner Zunft, ein geborener Sammler und Weltenbummler, ein Spezialist für Blattwespen oder Tenthredinidae, wie der Kenner sagt.
1920 bricht er mit Sten Bergman und Eric Hultén auf nach Kamtschatka, fängt dort Insekten, tötet Bären, fotografiert Vulkane und zeichnet Karten. Der eigenwillige Malaise kommt seinen Reisegefährten irgendwie abhanden, taucht 1923 in Kamakura wieder auf, just zur Zeit des schwersten Erdbebens der japanischen Geschichte, und verschwindet dann wieder von der Bildfläche. 1924 ist er erneut in Kamtschatka, diesmal in Begleitung einer gewissen Ester Blenda Nordström. 1933 heiratet er Ebba Söderhell, eine Lehrerin, und bricht mit ihr auf nach Burma, wo er fünf Prototypen jener Insektenfalle nähen lässt, die heute seinen Namen trägt. Die Ausbeute seiner Expedition: mehr als 100.000 Insekten, dazu burmesische Waffen, Trachten, Kunst- und Gebrauchsgegenstände jeder Art.
Vor Irrtum ist niemand sicher. Schon eine harmlose Schwebfliege hat ihre Geheimnisse, die Geschichte unseres Planeten umso mehr. Malaise, nach seiner Rückkehr hochgeehrt und eine Weltautorität unter Entomologen, verfiel Ende der 1940er Jahre auf eine Idee, die niemand außer ihm ernst nahm: „Atlantis, eine geologische Wirklichkeit“ (1951) nannte er sein populärwissenschaftliches Buch, mit dem er, inzwischen schon sechzig, endgültig die Brücke zur seriösen Wissenschaft hinter sich abbrach. So ist das, wenn man zu lange grübelt, wieso gerade in Patagonien Hautflügler schwirren, deren nächste Verwandte in Europa heimisch sind. Und eine längst bekannte Theorie außer Acht lässt: die der Reise der Kontinente über den Erdball, erstmals formuliert vom deutschen Geophysiker Alfred Wegener (1880-1930).
Fredrik Sjöberg ist da aus anderem Holz: bodenständig, akribisch, genau im Detail. Er sammelt auf seiner Insel, und nur da, keine Blattwespen, keine Schmetterlinge, keine Schmeiß-, Tanz- oder Dasselfliegen, sondern, wie er ausdrücklich betont, ausschließlich Schwebfliegen. Weshalb er jedoch an einem grauen Januarmorgen eine Kunstauktion besucht und die Kopie einer Rembrandtfälschung ersteigert, und was das mit unserem Freund René Malaise zu tun hat, erfährt der Leser erst auf den letzten Seiten. Wie gesagt, nichts ist so, wie es scheint. Erst recht nicht dieses Buch.
Gleichwohl: Es könnte auch weitergehen, leicht, wie auch Flügeln schwebend von einer Geschichte zur anderen, über Sommerwiesen, Stock und Stein, gezogen vom unsichtbaren roten Faden, der sicher führt von nebensächlichen zu ernsten Fragen – quer durch die bunte Vielfalt des Lebens und der Natur. Und diese weiß Fredrik Sjöberg so zauberhaft einzufangen – im Netz der Sprache und in der „Fliegenfalle“. Ein Buch, wen wundert es noch, das 2004 im Heimatland des Erzählers für den angesehenen schwedischen August-Preis nominiert wurde.
Literaturangaben:
SJÖBERG, FREDRIK: Die Fliegenfalle. Über das Glück der Versenkung in seltsamen Passionen, die Seele des Sammlers, Fliegen und das Leben mit der Natur. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 238 S., 17,95 €.
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