Die Deutschen und ihre Poesie! In Keiner anderen literarischen Gattung erkannte, nein: erlebte sich das deutsche Gemüt derart intensiv, fühlte es sich so heimisch und geborgen. Der Dichter, so meinte der Herausgeber eines „Poetischen Hausschatzes“ im 19. Jahrhundert, solle seine Empfindungen „mit möglichster Wahrheit, Wärme und Tiefe im Gemüthe des Zuhörers oder Lesers“ hervorrufen. <?XML:NAMESPACE PREFIX="O" NS="urn:schemas-microsoft-com:office:office" /=">
Glauben wir nicht, dass solche Überzeugungen der Vergangenheit angehören. Das Gedicht gilt nach wie vor als Krone literarischer Schöpfung, als Einlasskarte in Lebensbezirke jenseits von Alltag und Beruf. Seine Schönheit ist eine innere Schönheit, und wenn man auch nicht mehr von Erbauung und Seelenkultur spricht, so lebt doch noch jede Dichterlesung von jener Aura, die Goethe „Geisterhebung“ genannt hat.
Celan, der Hohepriester
Wer noch einen jener priesterlichen Auftritte Paul Celans erlebt hat, weiß von der Kontinuität dieses Dichterverständnisses, gegen das die politische Lyrik (das „garstige Lied“ nach Goethes Worten) nicht aufkommen konnte und dem ganze Domänen der „gebundenen Rede“, wie Lyrik einst definiert wurde, zum Opfer fielen.
Goethe war nicht unbeteiligt an dieser Geschichte, im positiven wie im negativen Sinne: Er eroberte dem Gedicht die ganze Weite der seelischen Bezirke, legte es aber für die Nachwelt darauf auch fest. Diese wollte ihrerseits nicht sehen, dass der Meister mit seiner „Metamorphose der Pflanzen“, den „Venetianischen Epigrammen“ oder gar dem „Westöstlichen Divan“ solche Übereinkunft längst selber wieder gesprengt hatte.
Politischer Einspruch
Diese Erinnerungen sind nötig, wenn man über den Lyriker Rolf Hochhuth sprechen will. Denn er sündigt gleich auf zweifache Weise gegen eine Gemeinüberzeugung des literarischen Publikums: zum einen, dass er, als Dramatiker und Erzähler ein Vertreter der objektiven literarischen Gattungen, auch als Repräsentant des subjektiven Teils der Poesie Geltung beansprucht. Zum anderen, dass er dann sogar Gedichte vor allem als reflexives Medium gebraucht, indem er darin politischen Einspruch ebenso formuliert wie Kommentare zu Zeitungsmeldungen, historischen Funden, sogar zu statistischen Daten.
Das Titelgedicht zu den „100 Gedichten“, die Dietrich Simon aus dem umfangreichen lyrischen Werk repräsentativ zusammengestellt und im S. Fischer Verlag herausgegeben hat, heißt „Drei Schwestern Kafkas“. Es nimmt seinen Ausgang von den zwar horrenden, doch abstrakt bleibenden Zahlen der Opfer in den nationalsozialistischen Mordmaschinen von Auschwitz bis Treblinka. Was die Statistik verschweigt, das Einzelschicksal, gewinnt in wenigen Versen Kontur: „Liest man jedoch, aber wer liest das noch! / vergast samt Familien Kafkas drei Schwestern / ‚glücklich verheiratet’ beschrieb die Mutter sie …“
Nun ist es die älteste Aufgabe der Literatur, den realen Einzelmenschen aus der dunklen Menge des Allgemeinen hervorzurufen. Das Leiden oder das Glück des Kollektivs lässt uns kalt. Wir erfahren es aber, wenn wir als Alltagserlebnis an ihm teilhaben. Doch Hochhuths Methode ist noch komplizierter: nie begnügt er sich mit bloßer Anschauung des exemplarischen Falles, löst ihn nicht aus dem Kontext der Reflexion. „Niemand vermag // Sofern er mag, gesichtslose Zahlen, sogar als Menschenzahl sich vorzustellen!“
Trennung von Sinnen- und Gedankenwelt
Hochhuth hebt die Trennung von Sinnen- und Gedankenwelt, von Seele und Verstand auf, die in der lyrischen Tradition so fest verankert ist, dass auch heutige Kritiker ungeniert vom „lyrischen Ich“, dieser Spottgeburt deutscher Innerlichkeit, sprechen, wenn sie eigentlich den Wortführer der Verse meinen, der mit dem Autor nie ganz identisch ist. Bei ihm geht diese Identität allerdings oft sehr weit, manchmal bis in den, trotz Versmaß und Reim, wieder erkennbaren Sprechduktus hinein.
Das hängt mit einem merkwürdigen und im Verhältnis zum gegenläufigen Lyrikverständnis mindestens anstößigen Umstand zusammen: In Versen hält dieser Dichter fest, was ihm am Tage auffiel, begegnete, was ihn ärgerte und erfreute. Das kann eine Greenpeace-Nachricht sein („Wale singen“), eine Lektürereminiszenz („Sprache“) oder ein historisches Datum („Mozart und Auschwitz“).
Kein Tagebuch, sondern Gedichte halten die Spuren des Tages fest: Begebenheiten wie die junge Frau, die im frühlingsbunten Rock auf ihrem Fahrrad vorbeifliegt, kleine Vorfälle wie die Versteigerung eines Mozart-Briefes auf einer Marburger Autographen-Auktion oder die eigenen existentiellen Irritationen beim Betrachten der Gischtspuren eines abfahrenden Schiffes oder während des schlaflosen sich Herumwälzens kurz vor einem Gerichtsprozess.
Doch was immer Hochhuth derart ins Gedicht transportiert: Privat bleibt es nie, führt den Leser auf einen objektiven Mangel oder einen Überschuss, den es zu bedenken gilt. Gefühle und Erlebnisse, Innenschau und Naturanblicke, diese Standardthemen deutscher Seelenpoesie, finden sich auch in Hochhuths Gedichten, doch immer reflexiv gebrochen. Der Missklang in einem Abschied, das Klischeehafte des Mondmotivs, die Menschenferne der frühgeschichtlichen Höhlenmalereien. Das sind die Risse in der Oberfläche des Daseins, die Verborgenheiten hinter dem Gewöhnlichen, die ihn interessieren.
Hier stimmt etwas nicht
Hier stimmt etwas nicht – dieser Eindruck, dieser Verdacht verbindet individuelle Erfahrung und historische Erkenntnis, schlägt den Bogen zwischen Erlebnis und Geschichte, zwischen Liebesgedicht und den großen historischen Balladen über Winston Churchill, Georg Elser und Elfriede Scholz, geborene Remark. Der Lyriker wird zum Detektiv, der nichts so nimmt, wie es sich ihm präsentiert, der Vertuschungen aufdeckt, Betrügereien an die poetische Glocke hängt und Profitgier namhaft macht, auch wenn sie in den Vorstandsetagen der Deutschen Bank herrscht.
Kunstvoller Aufklärer der Alltags
Aus dem trivialen Detail des Alltags, aus der Erfolgsmeldung einer Bank oder der Notiz eines Geschichtsbuches wird ein Indiz, das Zeichen einer Untat, die auf ihren Aufklärer wartet. In der Geschichte der deutschen Lyrik gibt es wohl kaum einen anderen Dichter, der detektorische Empfindlichkeit, reflexive Schärfe und manchmal geradezu waghalsige Versartistik (Binnenreim und Rhythmusbruch, Alltagsrede und Fachsprache, Zitat und Slangwort) in derart kunstvoller Form vereint.
Auch nicht Gottfried Benn, den Hochhuth viel zitiert, mit dem er oftmals geradezu ein Gespräch über die Zeiten hinweg führt. Am nächsten verwandt ist er einem anderen Dichter, der viel weniger bei ihm vorkommt: Heinrich Heine. Verwandt in der Empfindlichkeit jedem Unrecht gegenüber, verwandt in dem Misstrauen gegen die Geschichte und die politischen Machthaber, die sich in ihr austoben. Verwandt auch im direkten Zugriff auf die Wirklichkeit, in der Intellektualität der Haltung, der Sprungkraft des Geistes – und verwandt schließlich in der ungehemmten Bejahung der Sinnlichkeit, in der Emanzipation des Eros, in der Rettung der Wollust.
Angesichts der Venus in ihren tausend Gestalten, des Reizes der Geliebten, der immer herrlichen Fleischessünde verwandelt sich der unbestechliche Aufklärer in den begeisterten Erotiker. Da gelingen Gedichte von verführerischer Leichtigkeit, in denen noch das derbe Wort graziös zu tanzen beginnt und die Wollust der Seele zum sinnlichen Ereignis wird („noch ihre Seele zu lecken, die nackt // daliegt wie Stirn, Brust, Hals.“).
Utopische Sehnsucht der Liebesgedichte
Die Liebe entlockt diesem Geschichtspessimisten, diesem geradlinigen Kritiker unserer Kultur, die beredtsten Glücks- und Friedensappelle, die die deutsche Gegenwartsdichtung kennt. Utopische Sehnsucht kommt allein in Hochhuths Liebesgedichten zum Ausdruck, verführerisch formulieren sie die Emanzipation von der reißenden Geschichte und verlieren doch nie das Bewusstsein von der Gefahr der Versagung und Erschöpfung: „Orgasmen: Mysterien! Wie ertrinkend umschlungen / jagen wir durch Stromschnellen – Abstürzen zu.“
Literaturangaben:
HOCHHUTH, ROLF: Drei Schwestern Kafkas. 100 Gedichte. Herausgegeben von Dietrich Simon. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 184 S., 18,90 €.
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