Von Friedemann Kohler
MÜNCHEN (BLK) – Patchworkfamilie ist ein neuer westlicher Begriff, doch in Russland gibt es zusammen gewürfelte Familien seit Jahrzehnten.
Die Ablehnung der bürgerlichen Ehe durch die frühen Sowjets, politischer Druck, Wohnungsnot und Versorgungskrise haben Familien zerfallen und sich neu zusammensetzen lassen - und da sind die Wechselfälle der Liebe noch gar nicht gerechnet. Von russischen Patchworkfamilien erzählt die Moskauer Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja („Sonetschka“) in ihrem meisterhaften Kurzgeschichtenband „Maschas Glück“.
Ulitzkaja zeichnet ihre Familienporträts vor dem dunklen Hintergrund der Geschichte. In Stalins Säuberungen verschwinden Verwandte, der Krieg reißt Familien auseinander, Kriegsversehrte prügeln vor Verzweiflung ihre Frauen. Doch Ulitzkaja lässt an ihren Heldinnen glaubhaft Wunder geschehen: Sie gehen aus der Not meist als Siegerinnen mit neuer Lebenskraft hervor - und mit neuer Familie.
In der Titelgeschichte heiraten die frommen Kirchenchorsänger Mascha und Iwan unter großer Rührung der Gemeinde, ein orthodoxes Traumpaar. Doch Iwan verfällt dem religiösen Wahn, er verstößt Frau und Kinder. Mascha wird von einer Zufallsbekanntschaft schwanger, dann heiratet der Ikonenrestaurator Alexander die Frau. „Wenn er (Iwan) uns nicht so grausam verlassen hätte, wäre ich Alexander nie begegnet. Gott sei Dank für alles!“, räsoniert Mascha.
Die hübsche Tanja wiederum ist die Anmache der Männer so leid: „Alle wollen meinen Körper, niemand will meine Seele.“ Das Glück findet sie erst beim blinden Boris - der hat sich in ihre Stimme verliebt.
Unmerklich umspannt fast jede der kurzen Erzählungen Jahrzehnte. In „Ein Sohn großzügiger Eltern“ bekommen ein kümmerlicher jüdischer Journalist in Moskau, seine Frau und ein gefeierter sowjetischer Raketenkonstrukteur zu dritt ein Kind. Gemeinsam helfen sie dem Jungen auf den Lebensweg, bis er selber Vater wird. Nur das Geheimnis ihres Dreiecksverhältnisses verschweigen sie ihm 40 Jahre lang.
Der „Kurzschluss“ in einem Moskauer Wohnhaus bringt erstmals seit Jahren eine Zwangspause für Galina. Sonst rast ihr Leben als erfolgreiche Wirtschaftsprüferin und Mutter einer schwerbehinderten Tochter dahin. In der Dunkelheit erkennt sie ihre Überforderung und wählt den Weg in den Selbstmord.
Wie in allen ihren Büchern zeigt sich Ulitzkaja auch diesmal als genaue Beobachterin, sie kennt die Küchen und kleinen Zimmer, das Leben im Zentrum von Moskau. Und sie erzählt in „Maschas Glück“ so weise und liebevoll vom Schicksal ihrer Figuren, dass sie ein schwächeres Buch wie „Ergebenst, Euer Schurik“ (Berlin 2005) wieder wettmacht.
Literaturangaben:
ULITZKAJA, LJUDMILA: Maschas Glück. Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser Verlag, München 2007. 240 S., 19,90 €.
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