Von Isabelle Pfleiderer
Er ist 41 Jahre alt, heißt Gerhard Warlich und ist ein promovierter Philosoph. Einer von abertausenden überflüssigen Spezialisten seines Faches. Irgendwie ist er nach dem Studium bei einer Großwäscherei gelandet und dort hängengeblieben. Angefangen hat er als Ausfahrer („überqualifiziert, deswegen aber doch nicht unfähig“), ist dann aber schnell zum Geschäftsführer aufgestiegen. Ursprünglich hatte er vom Leben zwar mehr erwartet, doch im Großen und Ganzen ist er zufrieden mit den Verhältnissen, in denen er jetzt lebt: mit einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, die er mit seiner Freundin Traudel teilt, mit seiner Beziehung, mit seinem Einkommen. Dennoch hat er den Eindruck, dass die ganze Zeit eine unhaltbare Sache abläuft: sein Leben. Als Traudel ihm eines Tages erklärt, sie wolle ein Kind, wirft ihn das völlig aus der Bahn.
Der Georg Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino erzählt in seinem neuesten Roman „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ die Geschichte eines sehr empfindsamen, melancholischen, einsamen, erschöpften und ausgepumpten Mannes. Genazinos „Held“ Gerhard Warlich leidet unter der allgemeinen Ödnis des Wirklichen, unter der Kläglichkeit alles Geschehenden: „Ich höre jetzt nur noch das Wehklagen meiner rastlosen Seele. Sie möchte etwas erleben, was ihrer Zartheit entspricht, und nicht immerzu dem Zwangsabonnement der Wirklichkeit ausgeliefert sein. Ich beschwichtige meine Seele und schaue mich nach geeigneten Ersatzerlebnissen um. Aber die Wirklichkeit ist knausrig und weist das Begehren meiner Seele ab.“
Warlich hofft auf jemanden, der ihn aus seiner Erschrockenheit führt. Aber es kommt, wie üblich, niemand. Wie schon frühere Figuren Genazinos lässt sich dieser Wäschereiangestellte dann einfach durch die Welt treiben und nimmt den Leser dabei mit, als Zuschauer und Zeuge seines hilflosen Daseins. Die „Tröstung“ seiner Seele findet der Protagonist in scheinbar unbedeutsamen Beobachtungen: der Rückkehr eines Mannes zu einem abgebissenen Kuchenstück auf dem Dach eines geparkten Autos etwa, oder beim Anblick von Ameisen, die nicht abheben können, weil ihre Flügel zu lang und zu schwer sind für die winzigen Körper. Von solchen Anblicken geht für Warlich das Glück aus. Er nennt es „das Glück einer unvordenklichen Beobachtung“ und das erwärmt seine Innenwelt. Bis ihn die Außenwelt dann jäh verschluckt.
Genazinos neue Romanfigur passt in die Reihe melancholischer Helden, die der gebürtige Mannheimer so gern in seinen empfindsamen Romanen mit dem ihm eigenen resignativen Unterton begleitet. Doch anders als in früheren Werken bietet er dieses Mal keine Möglichkeit eines versöhnlichen Ausgangs der Geschichte: Überfordert vom Kinderwunsch der Freundin landet Warlich in der Psychiatrie.
Literaturangaben:
GENAZINO, WILHELM: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Hanser Verlag, München 2009. 158 S., 17,90 €.
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