Es gibt kaum eine Epoche der deutschen und europäischen Geschichte, die so gut erforscht, so ausführlich beschrieben worden ist wie das zwölf Jahre währende nationalsozialistische Terror-Regime des „Dritten Reichs“. Als jedoch der große Historiker Raul Hilberg 1948 begann, sich mit seiner schlimmsten Untat zu befassen, stieß er weithin auf Unverständnis.
Die Welt, gerade aus dem Alptraum eines Weltkriegs erwacht und in seiner Folge in zwei einander feindliche Blöcke gespalten, hatte anderes zu tun. Man „verdrängte“, was geschehen war. 1961 erschien die erste Fassung von Hilbergs Hauptwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“, da galt er immer noch als ein Außenseiter, der eine „unerbetene Erinnerung“ (so der Titel seiner Autobiografie) hervorgekramt habe.
Täter, Opfer, Zuschauer
Das hat sich gründlich geändert. Als 1989 die auf drei Bände erweiterte Fassung seines Werks erschien, gab es keinen Zweifel mehr an der Notwendigkeit solcher Forschung, deren Früchte zum Beispiel auch Michael Burleigh in seiner Gesamtdarstellung der „Zeit des Nationalsozialismus“ 1998 erntete. Die Geschichte wurde durch immer mehr neu aufgefundene oder neu interpretierte Dokumente und Zeugnisse (diese Unterscheidung hat Hilberg eingeführt und sie in seinem Buch „Die Quellen des Holocaust“ 2001 als eine der wichtigsten beim „Entschlüsseln und Interpretieren“ noch einmal hervorgehoben) um- und umgewendet.
Es bildeten sich „Schulen“ der Zeitgeschichte, die sich durch ihre Ansätze und Methoden unterscheiden und nicht selten auch befehden. Über die Schlüsselfigur Hitler erschienen viele Biografien, von Joachim Fests und Sebastian Haffners frühen Versuchen bis hin zu dem monumentalen zweibändigen Werk über Hitler von Ian Kershaw (Stuttgart/München 1998), ein Buch, das sich durch seine differenzierten, weithin schlüssigen Interpretation des „Führers“ auszeichnet. Zahllose Einzeluntersuchungen über so gut wie jeden Aspekt dieses Epochenbruchs liegen in Europa und Amerika vor, die Hilbergs unermüdliches, lebenslanges Forschen voraussetzen.
Wer über die Abfolge des Vernichtungsfeldzugs und ihre Protagonisten etwas in Kürze wissen will, kann es in Hilbergs Buch „Täter, Opfer, Zuschauer“ von 1992 erfahren, das in seiner Komprimierung die große Kälte eines Autors ausstrahlt, der sich bewusst hart gemacht hat gegen die Überwältigung durch ein Geschehen, das auch die genauesten Studien nicht vollends „aufklären“ können. Da bleibt ein Rest des nicht vergehenden, immer neu aufbrechenden Schreckens.
Antijudaismus
Eben diesen Schrecken lässt uns der in Prag geborene, heute in Tel Aviv und Los Angeles lehrende Historiker Saul Friedländer, fünf Jahre jünger als Hilberg, erfahren, der nach jahrzehntelanger Arbeit 1998 den ersten Band seines Buchs „Das dritte Reich und die Juden“ herausbrachte, das von den „Jahren der Verfolgung 1933-1939“ handelt und nun erst, neun Jahre später, auch den zweiten „Die Jahre der Vernichtung 1939-1945“. Insgesamt 950 eng bedruckte Seiten Text, 230 Seiten Anmerkungen und Quellennachweise, dazu ausführliche Register: eine Leistung von einschüchternder Stoffbeherrschung und Energie. Er kennt womöglich jedes Stück Papier, jede Aussage, jedes Tagebuch, alles, was bislang aufgetaucht ist.
Die vorliegende Arbeit versucht einen Bericht zu geben, in dem zwar die politischen Maßnahmen der Nationalsozialisten das zentrale Element bilden, in dem aber zugleich die umgebende Welt sowie die Einstellungen, die Reaktionen und das Schicksal der Opfer einen untrennbaren Bestandteil dieser sich entfaltenden Geschichte bilden…Die ständige Gegenwart der Opfer in diesem Buch ist nicht nur an und für sich wesentlich, sie soll auch dazu dienen, das Handeln der Nationalsozialisten in eine richtige umfassende Perspektive zu rücken.
Von allen historischen Wechselfällen, den politischen und ökonomischen Verwerfungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert einmal abgesehen, die selbstverständlich eine Rolle spielten und die Friedländer nie aus dem Auge verliert, benennt er zwei entscheidende Gründe für das entsetzliche Geschehen. Der eine liegt im weit verbreiteten Antisemitismus der europäischen Bevölkerung (der in Deutschland und Österreich besonders ausgeprägt war). In ihm verband sich ein altüberkommener, christlich begründeter Antijudaismus mit ökonomisch induziertem Neid, ordinärem Rassenhass, und einer irrationalen Angst vor allem Fremden.
Geschlossenes Warnsystem
Die Fremden schlechthin aber waren die Juden mit ihrer so anderen und doch mit der christlichen durch zweitausend Jahre verbundenen Geschichte und „Heilsgeschichte“. Noch in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, als so etwas wie eine Entspannung, ja sogar eine „Symbiose“ möglich zu sein schien, gab es immer wieder Warnsignale. Ohne diesen, oft ins kollektive Unbewusste abgesunkenen, aber jederzeit wieder an die Oberfläche zu holenden Antisemitismus kein Holocaust, keine Shoa. Das war das eine: Das andere war jener Adolf Hitler, der den Antisemitismus als junger Mensch in Wien kennen gelernt hatte und ihn im Lauf der Jahre zu einem geschlossenen Wahnsystem entwickelte.
Insbesondere in seinem Verhältnis zu den Juden wurde Hitler von ideologischen Obsessionen getrieben, die alles andere als die kalkulierten Manöver eines Demagogen waren. Das heißt, er führte einen ganz spezifischen Typ von völkischem Antisemitismus an seine extremsten und radikalsten Grenzen. Ich bezeichne diesen charakteristischen Aspekt seiner Weltanschauung als ‚Erlösungsantisemitismus’, dieser ist verschieden, wiewohl abgeleitet von anderen Varianten antijüdischen Hasses, die im gesamten christlichen Europa verbreitet waren, und er ist gleichfalls verschieden von den gewöhnlichen Arten des deutschen und europäischen rassischen Antisemitismus. Diese erlösende Dimension, diese Synthese aus einer mörderischen Wut und einem ‚idealistischen’ Ziel, die der Führer der Nationalsozialisten und der harte Kern der Partei miteinander teilten, führte zu Hitlers Entscheidung, die Juden zu vernichten. Eine Entscheidung, die er noch in seinem „politischen“ wie seinem privaten Testament, kurz vor seinem Selbstmord im April 1945, bekräftigte.
Was Friedländers Buch einzigartig macht, ist nicht nur seine ungemein detailreiche Schilderung des Weges, der bis dahin geführt hat, eine Schilderung, die selbst Bekanntes auf neue, oft überraschende Art verknüpft und damit erhellt: Es ist die Verwandlung von Geschichte in eine große „Erzählung“ als der einzig angemessenen Form, mit dem Unbegreiflichen so umzugehen, dass seine aufgedeckte „Wahrheit frei macht.“
Die Aufständischen in Warschau, Treblinka und Sobibór
Auf dem Grunde von Friedländers Unterfangen liegt die Überzeugung, dass es sich hier nicht um ein anonymes, von höheren Mächten verhängtes „Schicksal“ handelt, etwas, dem nicht zu entkommen war (was als bequeme Entschuldigung immer wieder auftaucht), sondern um eine von Menschen herbeigeführte Katastrophe, deren Verantwortliche und Schuldige „Anschrift, Name und Gesicht“ haben (wie Brecht zu sagen pflegte); um eine Katastrophe, die zu verhindern gewesen wäre.
Es gab immer wieder Gelenkstellen in dieser Geschichte, wo diese hätte einen anderen Verlauf nehmen können. Im Anfang durch politisches und administrativen Neinsagen, am Ende, während des Vernichtungsterrors, durch eine, so tapfere wie verlorene Geste des Widerstands, der nichts anderes mehr retten konnte, als die Würde des Menschen. Insofern sind die jüdischen Aufständischen in Warschau, in Treblinka und Sobibór nicht vergeblich gestorben: Sie haben mit ihrem Leben dafür bezahlt, dass sie noch das Unvermeidliche nicht als solches anerkannten.
Eine solche Geschichtsschreibung, die das erschreckte Staunen, den Protest über das Geschehene in die Erzählung inkorporiert und sie selbst da zum Sprechen bringt, wo es sich anscheinend nur um Streitigkeiten zwischen Nazisatrapen handelt oder die unsäglichen, in ihrer preußisch-bürokratischen Kasuistik das Absurde streifenden Rassegesetze, die zwischen Volljuden, Mischlingen ersten und zweiten und dritten Grades und „privilegierten Mischlingen“ unterschieden. Oder wo es um die Frage ging, ob es genüge, Juden jeden höheren Beruf zu verbieten oder vielleicht gleich alle Berufe, oder darum, sie von allen öffentlichen Orten, bis hin zu Freibädern und Parkbänken zu verbannen. Auch die naturwissenschaftlich unsinnigen, aber immer tödlichen Versuche, eine „jüdische Rasse“ zuerst an akribisch vermessenen Lebenden und dann an den Schädeln von Ermordeten nachzuweisen, gehört hierher.
„Tut nichts!“
Es ist in diesem Buch von viel Bosheit, von Hass, von Feigheit die Rede, von den kleinen und umso bittereren Untaten der einfachen Volksgenossen bis hin zum Tun hohnlachender Mörder, die Babys umbrachten und die doch – unter anderen Umständen – wahrscheinlich biedere Bürger geblieben wären, ohne eine Chance, ihre sadistischen Neigungen „auf Befehl“ auszuleben. „Die Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) ist das Böse selbst.
Friedländer hat sein großes Werk chronologisch aufgebaut, so kehrt er immer wieder, Jahr um Jahr, an dieselben Orte zurück, von West nach Ost, er vollzieht sozusagen die Deportation noch einmal nach. Im ersten Band ist noch von der Vorkriegszeit die Rede, von jener Schlinge, die sich langsam zuzog, den Opfern die Luft zum Atmen nahm und die diese Opfer selbst oft nur für ein neues, vorübergehendes Pogrom hielten, wie es die Judenheit im Lauf der Jahrhunderte schon häufig überstanden hatte. Die Klügsten flohen (wenn sie konnten!) aus Deutschland und den Gebieten, die das Reich nach und nach besetzte, die anderen duckten sich weg. Wieviel an administrativer Gemeinheit in der Ausschließung der Juden aus dem bürgerlichen Leben steckte, wie ernst Hitlers Drohungen ihnen gegenüber waren, selbst wenn er aus außenpolitischen Gründen einmal zurückzuweichen schien, das zeigt Friedländer an zahllosen Beispielen. Er greift dabei zurück auf die Berichte der Mörder wie der Opfer, wobei er der strickten Scheidung von „Dokument“ und „Zeugnis“ widersteht: Er braucht beide, nur so kann er der Gefahr entgehen, sich in Organigrammen und Statistiken zu verirren.
Im zweiten Band, der die eigentliche Zeit der „Vernichtung“ behandelt, lassen einen die unerbittliche Determination Hitlers und seiner Gefolgsleute ebenso schaudern wie der erstaunliche, irrationale (aber mit äußerster Rationalität „durchgeführte“) Aufwand, den die Nazis dabei getrieben haben. Selbst wenn sie die Juden brauchten, um ihre Kriegswirtschaft in Gang zu halten, nachdem der Siegeszug vorbei war, so verloren sie doch nie die Grundmaxime aus den Augen, das gruselige Wort des Patriarchen in Lessings dramatischer Fabel von Nathan dem Weisen: „Tut nichts! Der Jude wird verbrannt“.
Diplomatische Worte des Protests
Es gibt Kapitel in diesem Buch, etwa die von den Mordorgien der Einsatzgruppen kurz nach Beginn des Polenkrieges, die von der Deportation der Juden durch halb Europa „nach Osten“ und später der sukzessiven Räumung der Ghettos oder die vom Funktionieren der Gaskammern und Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern, deren Inhalt ist so furchtbar, dass das Weiterlesen schwer fällt.
Es gibt einzelne, wenige Kapitel, die vom Mut derer handeln, die sich widersetzten, die Juden versteckten und retteten und viele Kapitel, die von Feigheit erzählen, von Eigennutz und Antisemitismus selbst bei denen, die es hätten besser wissen können, und seien sie auch so ehrenwerte Leute, wie die, die den (späten) Widerstand gegen Hitler anführten oder Kirchenmänner (wie Papst Pius XII. und zahlreiche Bischöfe beider Konfessionen), die allenfalls diplomatische Worte des Protests fanden, weil sie etwa die Gefahr des Bolschewismus für größer erachteten als Hitlers Massenmorde.
Friedländers Buch schont keinen, die hohe Wehrmachtführung nicht und nicht die Soldaten, die sich an den Tötungsaktionen beteiligten, auch nicht die Führer der jüdischen Organisationen im Ausland, die fast stets zögerten, wenn es galt sofort und deutlich zu protestieren und zu helfen. Er lässt die ausländischen Regierungen nicht aus, die erst die Untaten nicht wahrhaben wollten und dann alle nur möglichen Ausreden ersannen, um untätig bleiben zu können, schließlich nicht einmal die „Judenräte“, die in den Ghettos die Befehle der Mörder entgegennahmen und ausführten, selbst dann, wenn sie unter ihren Brüdern „selektieren“ mussten. Am Ende hat diese tragischen Figuren der Furor der Vernichtung doch mitgerissen.
Erinnerung an die Toten
Auch wenn Friedländer Gründe anführen kann (er tut es immer wieder), um Verhaltensweisen rational zu erklären, so bleibt er doch unerbittlich, wenn es darum geht, Verantwortungen zu benennen. Es gibt keinen Rabatt auf Mord und Totschlag.
Friedländers Buch ist auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung. Er benutzt alles, was vor ihm andere herausgefunden haben (selbstverständlich immer mit Nachweis seiner Quelle) und entwickelt von dieser soliden Basis aus seine Argumentation. Die „große Erzählung“ funktioniert (übrigens auch aufgrund des klaren, kontrollierten Stils) und dabei ist so etwas wie eine erbitterte, ja fassungslose Totenklage im Gewand der Beschreibung eines jederzeit nachprüfbaren historischen Sachverhaltes entstanden. Er selbst, der zu den Davongekommenen gehört und alle anderen, die überlebt haben, sie bleiben in ihrer Geschichte gefangen.
Immer wieder zog die Vergangenheit sie zurück in überwältigendes Entsetzen, und durchgängig weckte sie auch nach all den Jahren die unzerstörbare Erinnerung an die Toten.
Literaturangaben:
FRIEDLÄNDER, SAUL: Das Dritte Reich und die Juden. Band 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C. H. Beck Verlag, München 2007 (3. Aufl.). 460 S., 29, 90 €.
---: Band 2: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. C.H. Beck Verlag, München 2006. 870 S., 34,90 €.
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