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Kiste zu, Katze tot

Der Autor als Gott: Norbert Zähringers Roman „Als ich schlief“

Von: TORSTEN GELLNER - © Die Berliner Literaturkritik, 08.11.06

 

Es ist wieder alles da: die wahnwitzigen Schnitte, so kühne Ereignisparallelität, dieses kaum überblickbare Erzählmosaik, dieses blümerant machende Figurengewimmel. Norbert Zähringers neues Buch funktioniert so wie sein verrückter Erstling „So“ – ein Buch, das 2001 bei seinem Erscheinen Feuilleton wie Leser gleichermaßen verzückte. Und doch funktioniert „Als ich schlief“ nicht. Nicht so ganz zumindest.

Überblick verloren

Zähringers zweiter Roman ist schon ein tolles, ein lesenswertes Buch. Unerhört fantasievoll, überschäumend, erzählwütig, pointenreich, absurd, witzig, rasant. Doch das, was „So“ so meisterlich machte, wirkt nun bisweilen bemüht und lustlos. Wieder hat der Autor eine ungeheure Vielfalt an Handlungssträngen und Figuren angelegt, doch es scheint, als habe Zähringer irgendwann nicht mehr so recht gewusst, wohin mit dem ganzen Zeug. Beim Schreiben von „So“, berichtete Zähringer in einem Interview, habe er irgendwann angefangen, selbst den Überblick zu verlieren und musste das Romanabenteuer mithilfe von Notizbüchern und Schemata zu einem erfolgreichen Ende führen. Diesmal, so scheint es, hat sich Zähringer etwas verzettelt.

Die Handlung ist wie bei „So“ kaum zu rekapitulieren. Da versteckt sich ein Kindersoldat aus einer fernen Militärdiktatur im Radkasten einer Boeing. Doch die Maschine bringt den Flüchtling nicht ins gelobte US-amerikanische Land, sondern ins geteilte Berlin des Jahres 1985. Es ist das Flugzeug des Vize-Präsidenten auf Staatsbesuch. Beim Landeanflug über Berlin plumpst der Junge, halb tot gefroren, punktgenau in einen Altpapiercontainer. Die aus Imagegründen aus dem Verkehr gezogenen Magazine, von deren Cover das Popsternchen Debbie Wulf zu lasziv und zu nackig blickt, sind dem Unterkühlten ein weiches, lebensrettendes Polster. Paul Mahlow, blumenkohlohriger Judoka, Frauenheld, Bummelstudent mit Wachmannjob, findet das Kind und rast mit ihm ins Krankenhaus.

Zufällig zuviel des Guten

Man merkt es schon: „Als ich schlief“ ist ein Roman über Zufälle, über unglaubliche Koinzidenzen, über das Unwahrscheinliche. Just als Mahlow in der Notaufnahme hockt und Formulare ausfüllt, trifft er auf seinen besten Freund und Mitbewohner, Alp Tazafhadi. Der war noch vor wenigen Minuten mit seinem anatolischen Notarztonkel Yilmer auf dem Weg zu einem weiteren Fall von „TGS“ (Türkischer Ganzkörper-Schmerz), geriet mit dem zur Ambulanz umgebauten alten Polizeibus in eine Demonstration gegen den Vizepräsidentenbesuch und bekam von Vizepräsidentengegnern eins auf den Schädel. Jetzt liegt er komatös auf einer Bahre und grinst im Vorbeigeschobenwerden schäl seinen Freund und Mitbewohner an.

Unterdessen führt Dr. Zumvogel in den USA seine Kälte- und Druckkammerexperimente im Dienste der Weltraummedizin durch. Der Fall des kälte- und höhenluftresistenten Flüchtlingsknaben, der wider alle Wahrscheinlichkeit den Langstreckenflug im Radkasten überlebt hat, weckt seine Aufmerksamkeit. Der Forscher reist nach Berlin, um den Jungen trickreich für seine Versuche zu gewinnen. Zumvogel hatte früher schon einmal solche Experimente durchgeführt. Zumvogel war ein besessener, erbarmungsloser KZ-Arzt vom Typ Mengele. Er ist – wieder so ein Zufall – der verschollene Onkel des Ich-Erzählers Alp Tazafhadi.

Schon in „So“ hielt der Zufall das ausufernde Erzählwerk zusammen. Irgendwie hingen die zahllosen Handlungsstränge, mal direkt, mal über mehrere Ecken, überraschend miteinander zusammen. So auch in „Als ich schlief“. Aber hier laufen die angelegten Erzählfäden zu oft ins Leere. Da werden Figuren anmodelliert, wunderbare Expositionen geschaffen, dann aber wieder fallengelassen. Der Zufall kennt schließlich keine Gesetzmäßigkeiten. Er ist also auch nicht für ein rundes Lesevergnügen verantwortlich.

Von Katzen und Kisten

Der Autor hat dem Roman die ihm zugrunde liegende Theorie gleich mitgeliefert. Der Ich-Erzähler, der übrigens allwissend und im Koma liegend die fransige Handlung kolportiert, hat ein Faible für Schrödingers Katze. Das ist jenes Gedankenexperiment zur Veranschaulichung der Quantenmechanik. Eine Katze steckt zusammen mit einer radioaktiven Substanz in einer Kiste. Die Substanz zerfällt nach einer Stunde mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Zerfällt sie, löst das einen Mechanismus aus, der die Katze tötet. „Über Zerfall und Nichtzerfall des Atoms lassen sich aber keine genauen Vorhersagen machen, das heißt, das Atom befindet sich in einem Zustand der Überlagerung, der so genannten Superposition, die es einem Teilchen nach der Quantenmechanik ermöglicht, an zwei Positionen gleichzeitig zu sein, zwei Zustände gleichzeitig einzunehmen: „Da das Leben der Katze vom Zustand des Atoms abhängt, befindet sie sich ebenfalls in einem Zustand der Überlagerung, das heißt, sie ist gleichzeitig tot und nicht tot.“

Verstanden? Egal. Gäbe es zwei Welten mit solchen Katzen-Kisten, so der Ich-Erzähler, wäre das Vieh in der einen Welt tot, in der anderen lebendig. Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit: „Es gibt keine Kiste, es gibt keine Katze. Alles ist nur Einbildung. Unsere Ideen vom Atom, dieses Universum, die Katzen, die Kisten und schließlich wir selbst, das alles existiert gar nicht. Es ist alles zusammen gesponnen. In Wirklichkeit sitzt irgendjemand schon seit vielen Jahren in einem leeren weißen Raum und denkt sich das hier aus.“

Der Autor spielt Gott, er kann sich alles erlauben. Auf dieser nicht ganz taufrischen literarischen Weisheit basiert Zähringers Erzählkonstrukt. Und er thematisiert seine Spielerei – auch das ist nicht unbedingt der letzte literarische Schrei. Durch das ständige Auf- und Abtauchen von Figuren und Handlungssträngen, durch die daraus resultierende Beliebigkeit, entsteht beim Leser eine latente Interesselosigkeit. Letztlich ist es einem wurscht, ob die Katze noch lebt, schon verreckt ist oder gar nicht existiert.

Fantastisch, doch nicht genial

„Als ich schlief“ verspricht viel, kann aber nicht alles halten. In „So“ war es umgekehrt: Das Debüt bot weitaus mehr, als man erwarten konnte. Aber immerhin: Das, was „Als ich schlief“ einlöst, die elegant komponierten Passagen, die Fabulierlust, die Pointendichte, die rasant geschnittenen Dialoge, das hohe Maß an Skurrilität und Fantasie – all das bietet immer noch genug, um von einem tollen Buch und einem herausragenden Autor zu sprechen.

Literaturangaben:
ZÄHRINGER, NORBERT: Als ich schlief. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 288 S., 19,90 €.

Zur Kurzvorstellung:

Weblink zum Verlag:

Torsten Gellner arbeitet als freier Journalist in Berlin


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